News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Realistischer Blick auf die ''Weiße Rose''  
  Der Widerstand der Gruppe um die Geschwister Scholl gegen das Nazi-Regime wurde bislang oft als heroisch betrachtet. Die Auswertung von Dokumenten aus DDR-Archiven führen nun zu einer realistischeren Einschätzung. Statt "unerreichbaren Helden" werden sie zu "echten Vorbildern".  
Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans warf sie am 18. Februar 1943 die aufrührerischen Flugblätter in den Lichthof der Münchner Universität. Sophie Scholl, die am 9. Mai 80 Jahre alt geworden wäre, war unvorsichtig. Das sechste Flugblatt wurde dem studentischen Widerstand gegen Hitler zum Verhängnis.
Mommsen: Plötzliche Unvorsichtigkeit

Sophie Scholl
Für den Historiker Hans Mommsen ist es eine noch offene Forschungsfrage, warum die Studenten, die vorher ihre Flugblätter per Post verschickten, plötzlich alle Vorsicht fahren ließen. "Das Problem ist eigentlich, warum sie diese Aktion machten", sagt er. "Das war der reinste Selbstmord."

Tatsächlich wurden die 21-jährige Sophie und ihr 24-jähriger Bruder am selben Tag verhaftet und nur wenige Tage später hingerichtet. Klar ist für Mommsen, dass die Geschwister nicht aus allgemeinen ethischen oder dezidiert politischen Überlegungen handelten, sondern aus religiöser Überzeugung: "Sie hatten das Gefühl, dass Hitler der Antichrist ist."
Steinbach: Von Hirzel verraten?
Das sieht der Historiker und Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, Peter Steinbach, anders. Er bezweifelt nicht, dass die Geschwister Scholl und ihre Mitstreiter christlich waren, aber: "In den Flugblättern werden sie zunehmend politischer."

Sie hätten Verantwortung der Deutschen für die Politik gefordert und dies auch staatsphilosophisch begründet. "Diese Gruppe handelte wirklich politisch."

Steinbach hat auch eine Vermutung, warum die Geschwister bei der Verteilung des letzten Flugblatts ein so hohes Risiko eingegangen sind: Ein Mitglied der "Weißen Rose", Hans Hirzel - er war 1994 Kandidat der rechtsextremen Republikaner für das Amt des deutschen Bundespräsidenten - habe am 17. Februar die Gruppe an die Gestapo verraten, was Sophie Scholl gewusst haben könnte.

Dann wäre die Aktion ein bewusstes Zeichen an die Öffentlichkeit gewesen, "eine Verzweiflungsaktion".
->   6. Flugblatt der "Weißen Rose"
...
Stiftung ''Weiße Rose'': Hirzel warnte die Scholls
Die Münchner "Weiße Rose"-Stiftung ist der Ansicht, dass Steinbachs These jeder Grundlage entbehrt. "Hans Hirzel hat nach seinem Gestapo-Verhör in Ulm die Familie Scholl angerufen und Inge Scholl dringlich gebeten, sofort ihre Geschwister anzurufen und zu warnen. Leider misslang das," heißt es in einer Erklärung der Stiftung vom Sonntag in München. Die Geschwister wurden am 18. Februar verhaftet und wenige Tage später hingerichtet. Die Ulmer Gestapo sei von der Verhaftung in München völlig überrascht worden, heißt es in der Erklärung der Stiftung unter Berufung auf eine historische Quelle. Bei der Vernehmung Hirzels habe nichts auf die Geschwister Scholl hingewiesen.
...
Forschungslücke durch DDR-Dokumente schließen
Steinbach hält die Herausgabe der Vernehmungsprotokolle für äußerst wünschenswert, um "eine große Forschungslücke" zu schließen. In diesen Dokumenten ist auch festgehalten, dass Hans Scholl noch auf dem Schafott rief: "Freiheit".

Die in den Archiven der DDR-Staatssicherheit und des DDR-Innenministeriums aufgefundenen Dokumente, von denen viele in der westdeutschen Geschichtswissenschaft als verschollen galten, sind laut Steinbach von der DDR-Führung bewusst unter Verschluss gehalten worden. "Sie hatten Angst davor", meint der Historiker. Widerstandsgruppen in der DDR hätten sich daran ein Beispiel nehmen können.
Weg von der Heiligenverehrung

Hans Scholl
Einig sind sich Mommsen und Steinbach, dass durch die Auswertung der Protokolle der Blick auf die "Weiße Rose" realistischer wird. "Man muss von so einer Heiligenverehrung weg", sagt Steinbach. Das ändere nichts daran, dass die Geschwister Scholl und ihre Mitstreiter "Vorbildfunktion" hätten.

Auch Mommsen sagt: "Es geht ein bisschen weg vom Heroismus." Nicht alle Mitglieder der Gruppe hätten bei den Vernehmungen eine "feste Haltung" eingenommen.
...
Einzige Widerstandsgruppe, die Judenmord anspricht
Wichtig sei aber auch daran zu erinnern, dass die Gruppe um Hans und Sophie Scholl nahezu die einzige Widerstandsgruppe gewesen sei, die den Mord an den Juden angesprochen hätten. "Das ist das große Verdienst." So hieß es schon im zweiten Flugblatt der Gruppe, das sie im Sommer 1942 in München an etwa 100 Personen verschickte: "Nur als Beispiel wollen wir die Tatsache kurz anführen, dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden in diesem Land auf bestialische Art ermordet worden sind."
->   2. Flugblatt
...
Helden oder wirkliche Vorbilder?
Hans und Sophie Scholl hatten eine Gruppe von rund einem Dutzend gleich gesinnter Studenten um sich geschart, waren aber, wie Mommsen betont, "keine konspirative Organisation". Mit ihren Flugblättern riefen sie zum "passiven Widerstand" gegen Hitlers verbrecherische Kriegsführung auf.

Auch Inge Jens, die Briefe und Aufzeichnungen von Hans und Sophie Scholl herausgegeben hat, spricht von "Bestrebungen, die im Gange sind, das Bild zu korrigieren". Lange Zeit habe die Schwester der beiden Widerstandskämpfer, Inge Aicher-Scholl, die Darstellung der "Weißen Rose" bestimmt. "Dadurch, dass man sie zu Helden gemacht hat, sind sie als etwas Unerreichbares dargestellt worden." Durch die "Normalisierung der Wahrnehmung" würden sie zu wirklichen Vorbildern.

(Heidrun Holzbach/dpa)
->   Mehr zu den Geschwistern Scholl und der "Weißen Rose"
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010