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Trivialisierung und "Kitsch" in der Kunst  
  Ob Romeos Julia mit Engelsflügeln oder Brünhilde im Dirndl am Küchentisch: Betrachtet man etwa das aktuelle Theater, so stellt sich angesichts der Inszenierungspraktiken die Frage, ob es "Kitsch" überhaupt noch gibt, meint die Theaterwissenschaftlerin Susanne Vill. Der Frage "Kunst oder Kitsch?" - vorab in einem Gastbeitrag für science.ORF.at erläutert - geht die Wissenschaftlerin im August beim Europäischen Forum Alpbach nach. Dabei sieht sie im Kitsch, der das Erhabene jedem zugänglich machen wolle, auch ein Moment des Demokratischen.  
Kunst und Kitsch
Von Susanne Vill

Julia mit Engelsflügeln, auf dem Totenbett umgeben von Devotionalien und tausend brennenden Kerzen, Romeo mit Luftballons auf einer Leiter balancierend, ein Totentanz mit Musikant en Travestie und Spaghettischüssel, die bestialische Zubereitung eines Huhns als Drohung vor einem zur Erpressung gequälten Juden und SA-Männer als Schuhplattlerbuam.

Brünnhilde im Dirndl am Küchentisch, die Walküren auf Stöckelschuhen und mit angesteckten Federflügeln wedelnd, gesichtslose Monster auf fliegenden Drachen, ein Heer von "Frankensteins" als Tötungsmaschinerie, strahlende Elben in idyllischen Jugendstilbehausungen und weiße Zauberer im perversen Machtrausch - ist das Kitsch?

Im aktuellen Theater lässt die Verbreitung von postmodernen Inszenierungspraktiken, die auch Elemente der Trivialisierung, der Überzeichnung, der Groteske zur Provokation nutzen, die Frage aufkommen, ob es "Kitsch" überhaupt noch gibt.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Susanne Vill von der Universität Bayreuth leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2004 gemeinsam mit Madalina Diacanu von der Universität für angewandte Kunst in Wien das Seminar "Kunst und Kitsch". science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Europäisches Forum Alpbach
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"Metaphysik via Haut in die Gemüter"
Während der radikale Agnostizismus die Wertung der Kunst als Kunst der Perspektive des Betrachters überlässt, sucht die Schockästhetik den angeblich dekadenten Zuschauern die "Metaphysik wieder via Haut in die Gemüter einziehen zu lassen" (Artaud).

In solcher Gewöhnung mag dann selbst die tiefste Betroffenheit zum flüchtigen Nervenkitzel und die Katharsis zu einem Durchlauferhitzer im Kraftwerk der Gefühle verkommen.

Doch die allgemeine Erhöhung des Reizpegels ist nicht mehr zurückzunehmen, und so muss sich das aktuelle Theater der im Publikum vorhandenen und von den Special Effects der Filmproduktionen angeheizten Reizstruktur stellen.
Keine klassischen Deutungshierarchien
Hinzu kommt die von der Postmoderne postulierte multiple Option, die die klassischen Deutungshierarchien soweit aufbricht, dass das Publikum einen eigenen Zugang zum Theaterkunstwerk finden kann.

Die von der Rezeptionsgeschichte der Theaterstücke und der Literaturvorlagen für Verfilmungen mitgeprägte neue Sicht darauf ist eine kritische. Die verborgenen Ideologien werden offen gelegt, das Wissen der Nachgeborenen und neu aufgekommene Sinnbezüge werden in die Aufführungen und Verfilmungen hineinmontiert.
Vielfalt ästhetischer Konzepte
In dieser neuen Gestaltungsfreiheit werden alle Signifikanten intentional gleichwertig nebeneinander gestellt. Was ehedem als Kitsch galt, kann nun als groteskes Element eine besondere Appellfunktion erhalten oder als Zeichen von Depravierung hoher Kunst dienen.

Die Vielfalt der ästhetischen Konzepte, zwischen denen sich Theaterinszenierungen und Literaturverfilmungen bewegen, bringt es mit sich, dass nur einzelne Zeichenkomplexe ganz konkret auf ihren Kunstcharakter bzw. ihre Trivialität hin zu befragen sind
"Romeo und Julia" als Multikulti-Totentanz
Was geschieht mit Shakespeares "Romeo und Julia", wenn die Personen der Handlung in einem überzeitlichen Multikulti-Totentanz zwischen Traum, Rausch und Nahtoderfahrung schweben, wenn statt verfeindeter Familien ethnische Gruppen, arm und reich, Privilegierte und Unterprivilegierte, so genannte Normale und Exzentriker aufeinander stoßen?
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George Taboris Farce "Mein Kampf"
Wie "menschlich" nah bringt George Tabori in seiner Farce "Mein Kampf" den Massenmörder und Judenvernichter des Dritten Reiches, wenn er den jungen Hitler zeigt, wie er im Wiener Männerwohnheim von Schlomo Herzl verhätschelt wird? Ist die symbolische "Hinrichtung" von Herzls Lieblingshuhn durch einen gespenstischen Herrn "Himmlischst" nicht weit jenseits des guten Geschmacks? Oder ist es gerade jene Form der aberwitzigen Überzeichnung, die das Grauen überhaupt noch theatralisch fassbar macht?
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Entmythologisierung im "Ring des Nibelungen"
Ist die radikale Entmythologisierung der Götter wie auch der Bewohner von Zwischenwelten in Wagners "Ring des Nibelungen" eine humanisierende Annäherung an den Gehalt des Werkes, oder nimmt sie dem Kunstwerk wesentliche Aspekte seiner geistigen Tiefendimension?
"Der Herr der Ringe" als Gegensatz
Im Gegensatz zu zahlreichen heutigen Theaterinszenierungen, die die Entmythologisierung der mythischen Stoffe betreiben, setzte Peter Jackson mit seiner Verfilmung von Tolkiens "Der Herr der Ringe" aufs Phantastische der Mythologie, auf Archäologie und Konkretisierung der überlieferten Bildwelten.

Da sich Jackson auch Tolkiens Idee, eine Synthese nordischer Mythen als Identität stiftendes Kulturgut der angelsächsischen Nationen zu schaffen, verpflichtet fühlte, ist seine Entscheidung für den phantastischen Realismus nicht nur als Zugeständnis an ein jugendliches Publikum zu werten.

An diesem Beispiel zeigt sich wieder, wie das Genre des Fantasyfilms tradiertes mythisches Bildungsgut an die Massen und insbesondere an die junge Generation überliefert. Doch die Auenlandbewohner und ihr Lebensstil erscheinen als Verniedlichung, während die Horrorgestalten der Orks und Uruk-hai als Monster wie aus Frankensteins Retorte daher kommen - ist das gemütlicher versus Gruselkitsch?
Die Unterformen des Kitsch
Hans-Dieter Gelfert unterscheidet in seinem Buch "Was ist Kitsch?" als typische Formen den niedlichen, gemütlichen, sentimentalen, religiösen, poetischen, sozialen Kitsch, Naturkitsch, Heimatkitsch, Blut und Boden-Kitsch, mondänen, sauren, erotischen Kitsch, Gruselkitsch, erhabenen Kitsch, Monumentalkitsch, patriotischen, ideologischen Kitsch und Einschüchterungskitsch.

Die Produzenten von Kitsch passen seiner Analyse nach ihre Produkte an einen erkannten oder vermeintlichen Publikumsgeschmack an. Kitsch lädt sein Publikum zur Regression oder zur Projektion ein.
Beschränkung der Kunstwirkung
Beide Mechanismen beschränken die Wirkung des Kunstwerks, passen sie an persönliche Neigungen oder Erfahrungen der Rezipienten an und wenden sie ins Persönliche, Private. Große Kunst hingegen kann eine Wirkung im Bewusstsein seiner Rezipienten auslösen, die darüber hinaus geht, sich dem Überpersönlichen, der Allgemeinheit und dem Unbekannten zuwendet.
Das Erhabene für jedermann
Da das Publikum aber ein Weltbild sucht, welches auch das Erhabene einschließt, und darin Geborgenheit finden will, versucht der Kitsch, dieses Erhabene jedem zugänglich zu machen. Mit diesem Blick auf die Masse ist der Kitschproduktion auch ein Moment des Demokratischen inhärent.
Kunstgenuss ohne Anstrengung
Der Demokratieimpuls fordert den Kunstgenuss ohne Anstrengung bei der Wahrnehmung, und das will vor allem die Trivialkunst bieten. Im heutigen Publikum besteht ein Misstrauen gegenüber Autoritäten in allen Bereichen, also auch in der Kunst. Das wird ernst genommen und reflektiert.
Ablehnung von Komplexität
Die Vergnügungssucht der Erlebnisgesellschaft duldet keine Frustration durch hohe Bildungsansprüche. Im allgemeinen Egalisierungsprozess wird der Stand des Materials und die Komplexität hochkultureller Kunstprodukte abgelehnt.

Die traditionellen Werke gelten nicht länger als sakrosankt, vielmehr kann alles der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

Hinzu kommt der Jugendlichkeitskult, der bewirkt, dass der Anspruch großer Kunst an die "Zuschaukunst" (Brecht) ihres Rezipienten nivelliert und ihr Horizont der Naivität des jugendlichen Publikums angepasst wird.
Demokratisierung des Kunstzugangs
Kitsch versucht, die Schranken zu umgehen, welche das Gestaltungsniveau und die Komplexität von großer Kunst aufrichten. Kulturleistungen der Hochkultur fordern zum Teil mühevolle Bildungsprozesse ein, bis sie einsehbar und mitvollziehbar werden.

Die Demokratisierung des Kunstzugangs fordert aber, dass jedem die Befähigung erreichbar sein solle, die Kunstwerke zu erfassen und bei ihrer Beurteilung mitreden zu können. Joseph Beuys propagierte "Jeder Mensch ist ein Künstler", aber Botho Strauss beklagte, dass in den tertiären Diskursen über Kunst jeder glaubt, mitreden zu können.
Ohne Anstrengung keine Begeisterung
Doch die Vereinfachung in der Wahrnehmung des Komplexen hat ihren Preis. So wie weltfremde Utopien den Aufwand verharmlosen können, der zur Verbesserung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse nötig ist, so bleibt auch beim Betrachten von Kitsch der "Flow" aus, die ansteckende Begeisterung, die den Wert des Erkannten, Erlebten im Gefühl verankert, wenn die Arbeit an der Erkenntnis umgangen wurde.

"Flow" entsteht nur dort, wo unter großem Einsatz mit eigener Anstrengung etwas errungen wird - ein Kunstgenuss oder ein Erkenntniszuwachs. Darin liegt einer der Unterschiede ums Ganze.
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Informationen zur Autorin: Susanne Vill
Susanne Vill ist Professorin für Theaterwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung des Musiktheaters an der Universität Bayreuth.

Publikationen u.a.:
- 'Das Weib der Zukunft"-Frauengestalten und Frauenstimmen bei Richard Wagner. S. Vill (Hrsg.): Stuttgart: Metzler-Verlag, 2000.
- Richard Wagner und die Juden. D. Borchmeyer, A. Maayani, S. Vill (Hrsg.): Stuttgart: Metzler-Verlag 2000.
- Erstickter Schrei. Über Kunst und ihre Botschaft im postmodernen Dschungel transkultureller Rätsel.
Polyaisthesis (Salzburg), 5. Jg. 1990 H.1 S.4-17
- Aufklärung, Katharsis, Regression und Probehandeln. Von den heilsamen Erschütterungen der Theatererfahrung.
In: Polyaisthesis. (Salzburg) 3. Jg. 1988 H.1 S. 47-60
->   Website von Susanne Vill (Uni Bayreuth)
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Mehr vom Forum Alpbach 2004 in science.ORF.at:
->   Manfred Prisching: Werte, Normen, Devianz (5.8.04)
->   Reinhard Kannonier: Grenzüberschreitungen in der Musik (10.8.04)
 
 
 
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01.01.2010