News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung .  Technologie 
 
Chaos im Wasserhahn - "Turbulenzrätsel" gelöst  
  Wenn sich Flüssigkeiten bewegen - etwa beim Strom durch eine Wasserleitung - dann können sich unter bestimmten Bedingungen turbulente Strömungsmuster einstellen. Bekannt ist das Phänomen schon lange, an dessen Erklärung haben sich Physiker lange Zeit die Zähne ausgebissen. Ein internationales Forscherteam hat nun im Experiment die Vermutung bestätigen können, dass sich turbulente Strömungen um so genannte laufende Wellen organisieren.  
Wie die Forscher um Björn Hof von der Technischen Universität Delft und Bruno Eckhardt von der Philipps-Universität Marburg berichten, könnte diese Erkenntnis u.a. zur Verringerung des Strömungswiderstands in Röhren, wie sie etwa in Verfahrenstechnik und Pipelines eingesetzt werden, führen.
...
Die Studie "Experimental Observation of Nonlinear Traveling Waves in Turbulent Pipe Flow" von Björn Hof et al. erschien im Fachjournal "Science" (Band 305, S. 1594-8 , Ausgabe vom 10.9.04; DOI: 10.1126/science.1100393).
->   Zum Original-Abstract (kostenpflichtig)
...
Turbulenz im Alltag
Turbulente Strömungen sind aus dem Alltag wohlbekannt, seien es die Bewegung der uns umgebenden Luft und Wolken, die Strömung von Flüssen oder die Wirbel beim Umrühren des Kaffees.

Strömungen durch Rohre treten ebenfalls häufig auf: in der Verfahrenstechnik, in Wasserleitungen, aber auch in der Luftröhre oder den Blutbahnen.
Klassiker der Chaosforschung
In den Naturwissenschaften ist die Turbulenz ein herausragendes Beispiel für eine komplexe, chaotische und durch Nichtlinearitäten dominierte Bewegung.

Während ihre quantitative Beschreibung für Forscher nach wie vor eine große Herausforderung bleibt, bringt sie in der Praxis meist Nachteile, da der Strömungswiderstand einer turbulenten Strömung größer als der einer laminaren Strömung ist und zudem schneller mit der Strömungsgeschwindigkeit anwächst.
Beispiel Wasserhahn
Bild: dpa
Der Übergang von einer laminaren zu einer turbulenten Strömung lässt sich leicht am Beispiel eines Wasserhahns demonstrieren. Bei vorsichtigem Aufdrehen kommt erst ein glatter, laminarer Strahl heraus (jedenfalls dann, wenn der Strahl nicht durch ein Sieb aufgewirbelt wird):

Die Flüssigkeitsteilchen darin bewegen sich parallel und geordnet nebeneinander her. Wird der Hahn weiter aufgedreht, kommt es zu einem Überschlag vom glatten zu einem verwirbelten, undurchsichtigen Strahl: Die Strömung wird turbulent.
...
Strömungs-Pioniere: da Vinci und Reynolds
Schon Leonardo da Vinci hielt Turbulenz im Jahr 1529 in eindrucksvollen Zeichnungen fest. Eine grundlegende quantitative Untersuchung des Übergangs veröffentlichte Osborne Reynolds im Jahr 1883: Er beobachtete die Wirbel im turbulenten Fall und stellte fest, dass der Übergang nicht nur von der Strömungsgeschwindigkeit, sondern auch von der Stärke einer Störung abhängt.

Reynolds fand auch heraus, dass verschiedene Flüssigkeiten, die durch verschieden dicke Rohre fließen, sich mit Hilfe derselben Kennzahl, der nach ihm benannten Reynolds-Zahl, zueinander in Bezug setzen lassen - Strömungen mit der gleichen Reynolds-Zahl verhalten sich also gleichartig.
->   Mehr zur Reynolds-Zahl bei Wkipedia
...
Turbulenz kann zerfallen
Die Rohrströmung weist eine Besonderheit auf: Wenn sich bei ihr das laminare Strömungsprofil einmal eingestellt hat und nur schwach gestört wird, bleibt es bei allen Strömungsgeschwindigkeiten bestehen.

Erst bei genügend großen Störungen wird der laminare Zustand verlassen und es stellt sich eine turbulente Strömung ein. Zudem zeigen numerische Untersuchungen, dass der turbulente Zustand nicht dauerhaft besteht, sondern nach einer, wenn auch manchmal sehr langen Zeit, wieder zerfallen kann.
Neues quantitatives Maß eingeführt
Die Marburger Forscher Bruno Eckhardt und Holger Faisst haben dieser Beobachtung nun noch ein quantitatives Maß hinzugefügt:

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Strömung nach einer bestimmten Zeit noch turbulent ist, fällt exponentiell mit der Zeit ab, und die Halbwertszeit einer turbulenten Strömung steigt sehr schnell mit der Reynoldszahl an.

Dieses Verhalten ist von anderen chaotischen Systemen bekannt und deutet auf die Existenz eines so genannten chaotischen Sattels hin. Entscheidend für die weitere Bestätigung dieses Bildes war die Identifikation der Zustände, um die herum sich dieser Sattel bildet.
Wirbel und "Streaks" bilden chaotisches Muster
 
Bild: Philipps-Universität Marburg

Berechnungen von Eckhardt ergaben, dass es sich dabei um langgestreckte Wirbel, die in Strömungsrichtung orientiert sind, handelt. Diese Wirbel transportieren Flüssigkeit, die sich langsam an den Wänden entlang bewegt, in die Mitte des Rohrs und schnelle Flüssigkeit von der Mitte hin zu den Wänden.

Ein Querschnitt durch das Rohr zeigt darum Regionen, so genannte "Streaks", in denen eine gegenüber dem laminaren Strömungsprofil erhöhte bzw. erniedrigte Strömungsgeschwindigkeit herrscht.

Solche Streaks gehören zu den Hauptindikatoren für den Wirbeltransport. Die Experimente der internationalen Forschergruppe haben nun sowohl Streaks als auch Wirbel eindeutig nachgewiesen.

Bild oben: Wirbel und Streaks in Strömungsfeldern: Experimentell bestimmt (obere Reihe), sowie theoretisch berechnet (untere Reihe).
Das Experiment
Im Labor für Aero- und Hydrodynamik der Technischen Universität Delft haben die Forscher ein Experiment aufgebaut, mit dem sich die Rohrströmung genau vermessen lässt.

An einer Messstelle des etwa dreißig Meter langen Aufbaus werden die Flüssigkeitspartikel mit einem aufgefächerten Laserstrahl beleuchtet und stereoskopisch mit zwei Hochgeschwindigkeitskameras fotografiert.

Aus zwei kurz hintereinander aufgenommenen Bildern lassen sich dann die Orte und Geschwindigkeitsvektoren der Teilchen rekonstruieren. Mit Hilfe dieser stereoskopischen "particle image velocimetry" (PIV) lässt sich das lokale Geschwindigkeitsfeld in einer Querschnittsfläche vermessen.
Theorie bestätigt
Setzt man stromaufwärts gezielt eine Störung, zeigen sich im Querschnitt die Wirbel sowie die charakteristischen Streaks. Weil ihre Zahl, Breite, Position und zeitliche Entwicklung gut mit den theoretischen Vorhersagen übereinstimmen, kann das "Turbulenz-Rätsel" somit als gelöst gelten.
->   Taking a close look at turbulence (Physics Web)
->   Technische Universität Delft
->   Philipps-Universität Marburg
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung .  Technologie 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010