News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
Wie Marijuana im Gehirn wirkt  
  Cannabisprodukte gehören - neben Alkohol, Tabak und Medikamenten - zu den am häufigsten verwendeten Suchtmitteln. So hat etwa in Wien bereits jeder dritte unter den 15- bis 29-Jährigen Erfahrung mit Cannabis. Worauf die psychische Wirkung von Haschisch und Marijuana aus neurobiologischer Sicht basiert, ist indes nicht vollständig erforscht. Zwei US-Wissenschaftler haben nun herausgefunden, dass gewisse Hirnzellen selbst ähnliche Substanzen herstellen, um die Informationsübertragung im Großhirn zu regulieren.  
Wie David A. Prince und Kollegen von der Stanford University berichten, handelt es sich dabei um einen speziellen Typ so genannter Interneurone, die normalerweise einen dämpfenden Einfluss auf die Reizweiterleitung haben. Genau dieser Effekt wird beim Konsum von Cannabisprodukten verändert.
...
Die Studie "Long-lasting self-inhibition of neocortical interneurons mediated by endocannabinoids" von Alberto Bacci, John R. Huguenard und David A. Prince erschien im Fachjournal "Nature" (Band 431, S.312-6, Ausgabe vom 16.9.04).
->   Zum Original-Abstract
...
Warum verändern Drogen die Psyche?
Warum verändern Drogen und psychotrope Substanzen die Empfindungswelt? Sie tun dies deshalb, weil sie die Blut-Hirnschranke überwinden können und so ihre Wirkung im Gehirn entfalten.

Letztere beruht bei vielen Stoffen auf einer zufälligen strukturellen Ähnlichkeit mit natürlichen Signalmolekülen, die vom Nervensystem produziert werden.
Chemische Ähnlichkeit zu körpereigenen Substanzen
Klassische Beispiele dafür sind etwa Nikotin und das Fliegenpilz-Gift Muskarin, die an Rezeptoren binden, die eigentlich dem Transmitter Acetylcholin vorbehalten wären.

Die chemische Ähnlichkeit der Bindungsstellen der Moleküle führt dazu, dass der Rezeptor nicht zwischen natürlichen und fremden Überträgerstoffen "unterscheiden" kann - mit den bekannten psychischen und körperlichen Wirkungen auf den Konsumenten.
->   Mehr zu Acetylcholin bei Wikipedia
...
Ähnliches Prinzip bei LSD
Auch das erstmals im Jahr 1938 von Albert Hoffmann synthetisierte LSD verdankt seine halluzinogene Wirkung einem ähnlichen Mechanismus. Die Substanz bindet an so genannte 5-HT1- bzw. 5-HT2-Rezeptoren und ruft dadurch Symptome hervor, die - grob gesprochen - mit jenen einer Schizophrenie verglichen werden können.
->   LSD - Info Facts (nih.gov)
...
Auch Cannabinoide binden an spezielle Rezeptoren
Auch das in Cannabispflanzen enthaltene THC (von "Tetrahydrocannabinol") greift ebenfalls auf Gehirn-interne Signalwege zurück.

Körpereigene Substanzen, die an Cannabinoid-Rezeptoren im Gehirn binden, beeinflussen damit die Bewegungskoordination, das Kurzzeitgedächtnis sowie die Regulation des Immunsystems. Genau an diesen Bindungsstellen greift auch das THC an.

Wie das so genannte körpereigene Cannabinoid-System im Detail funktioniert, ist allerdings noch nicht restlos aufgeklärt, dementsprechend gibt es auch in Bezug auf die THC-Wirkung noch einiges zu erforschen.
->   Mehr zu THC bei Wikipedia
Körpereigene Cannabinoide regeln Signalleitung
Bisherige Studien ergaben jedenfalls, dass Pyramidenzellen im Gehirn Endo-Cannabinoide herstellen und damit so genannte hemmende Interneurone beeinflussen. Letztere bilden gewissermaßen ein kognitives Dämpfungssystem, weil sie die Aktivität nahe gelegener Nervenzellen absenken und so verhindern, dass höhere Gehirnzentren mit Reizen überflutet werden.

Die Freisetzung der Cannabinoide durch die Pyramidenzellen wirkt auf die Interneurone nun wie ein "Schlafmittel", d.h. ihre Dämpfungsfunktion wird dadurch kurzzeitig unterbunden.

David A. Prince und Mitarbeiter entdeckten nun einen ähnlichen Effekt, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Sie fanden nämlich heraus, dass sich so genannte LTS-Interneurone (von "low-treshold-spiking") in der Hirnrinde von Ratten gewissermaßen selbst Schlaftabletten verabreichen.
Interneurone hemmen sich selbst
Die Zellen produzieren Endo-Cannabinoide und setzen sie frei, worauf diese an die zelleigenen Cannabinoidrezeptoren binden. Dies führt zu einer Hemmung der eigenen Aktivität.

Da die Interneurone aber ihrerseits für die Hemmung anderer Zellen verantwortlich sind, führt dieser Vorgang in Summe zu einer verstärkten Reizweiterleitung: Dieser ungewöhnlich lange - nämlich bis zu 35 Minuten - andauernde Effekt "könnte Veränderungen der Wahrnehmung, der Bewegungssteuerung sowie im Prinzip von allem, womit die Großhirnrinde befasst ist, hervorrufen", meint Prince.

Die Entdeckung könnte nach Ansicht des Forschers auch für die Behandlung von Epilepsie von Nutzen sein, da die Interneurone im Normalfall überschießende Erregungswellen hemmen.
->   Endocannabinoids (EFA education)
Suche nach medizinischen Aspekte von Marijuana
Die Ergebnisse geben außerdem einen neuen Hinweis auf die vielfältigen Wirkungen, die der Marijuana-Konsum im Gehirn hervorruft.

Da die Interneurone äußerst weit reichende Funktionen aufweisen, sei es daher nicht überraschend, dass THC die Wahrnehmung verändert, so Prince.

In Zukunft wollen die Forscher herausfinden, ob und wie THC an Subtypen von Cannabinoid-Rezeptoren bindet. Dies könnte den medizinisch sinnvollen Aspekt von Marijuana zu Tage fördern - und zwar ohne psychische Nebenwirkungen.
->   Website von David A. Prince (Stanford University)
->   Das Stichwort Cannabis im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010