News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Antiamerikanismus als global verbindendes Lebensgefühl  
  Seit dem Zusammenbruch des Sowjetsozialismus werden die USA gerne als die "einzig verbliebene Supermacht" bezeichnet. Und vor allem in den vergangenen Jahren hat diese letzte Supermacht immer wieder emotionale Ressentiments unterschiedlichster Ausprägung hervorgerufen, die unter dem Begriff "Antiamerikanismus" zusammengefasst werden. Der deutsche Soziologe Detlev Claussen sieht darin Anzeichen eines "global verbindenden Lebensgefühls" - eine Reaktionsbildung auf weltweite gesellschaftliche Veränderungen, die als "Amerikanisierung" der Welt empfunden werden.  
In einem Vortrag am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) erläuterte Claussen Ende September seine Thesen - und wies zunächst darauf hin, dass der Begriff des Antiamerikanismus nicht eben einfach zu fassen ist.

Seine Erklärung: Es handelt sich um eine "flexible und daher veränderbare Größe".
...
Detlev Claussen ist Professor für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie an der Universität Hannover (Institut für Soziologie und Sozialpsychologie).

Der Vortrag ("IWM-Tuesday-lecture" am 21. September 2004) fand im Rahmen der Reihe "Bruchlinien der Ungleichheit/Faultlines of Inequality" statt, die vom IWM in Zusammenarbeit mit dem Renner Institut organisiert wird.
->   Vita und Publikationen von Detlev Claussen (Uni Hannover)
...
"Zu Amerika hat jeder eine Meinung"
Die grundlegende These des Wissenschaftlers: Antiamerikanismus nimmt heute eine ganz bestimmte Stelle im öffentlichen, aber auch im privaten Bewusstsein ein. Und dies, so Claussen, ist ein globales Phänomen - spätestens seit dem 11. September 2001.

Denn: "Zu Amerika hat jeder eine Meinung - weltweit", wie der Soziologe weiter ausführt. In Österreich genauso wie in Südindien oder Nordchina."
9/11 als Stimulus zur Meinungsbildung
Auch 9/11 ist für den Soziologen in diesem Zusammenhang nur ein Anlass, ein "Stimulus" zur Meinungsbildung. Was hier jedoch als Meinung gebildet wurde, sieht er bereits als "Verarbeitung eines weitaus generelleren Geschehens".
Trennung von Erfahrung und Meinung
Amerika steht demnach für das Gefühl einer fundamentalen (Gesellschafts)Veränderung, für umfassende Modernisierungsprozesse. Dabei, so betonte der Soziologe, gründen die Meinungen zu Amerika nicht notwendigerweise auf dem realen Amerika.
Amerika als Chiffre
Amerika ist eine Chiffre, wie Claussen es nennt. Diese bedeutet für unterschiedliche Leute mit unterschiedlichen Codes etwas Verschiedenes. Eine Chiffre allerdings, die sich auf einen generellen Nenner bringen lässt: das Bild einer rastlosen, höchst dynamischen Gesellschaft in Veränderung.
Gleichzeitige weltweite Entwicklung
Nach Claussen handelt es sich hier allerdings um die Projektion einer globalen und gleichzeitigen Entwicklung auf die USA: Er verweist auf enorme Dynamisierungsprozesse aller Gesellschaften.

In den westlichen Nationen etwa als Übergang von der Arbeits- zur Wissensgesellschaft beschrieben. In den realsozialistischen Gesellschaften wie der DDR wiederum kulminierten sie in den Umbrüchen des Jahres 1989.
...
China als Musterbeispiel: Die Reformen Deng Xiaopings
Als ein Musterbeispiel nennt Claussen China: Dort sei es zu einer Unterminierung aller traditionellen Stützen einer kommunistischen Industrialisierungsgesellschaft gekommen - in Form der großen Reformen unter Deng Xiaoping. In Folge sei die kommunistische Ideologie in der Gesellschaft marginalisiert worden - abgesehen von einigen wenigen Aspekten wie dem Einparteiensystem.
...
Antiamerikanismus als Reaktion
Den Antiamerikanismus, so wie er in den Meinungsumfragen auftritt, sieht er somit als eine Reaktion auf diesen globalen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, der heute mit Amerika identifiziert werde.

Dieser Prozess werde im Bewusstsein der Menschen "in der Chiffre Antiamerikanismus" verarbeitet.
Ambivalenz und Unsicherheit
Denn die meisten Menschen, so Claussens Erklärung, sind solchen gesellschaftlichen Prozessen gegenüber ambivalent eingestellt. Dabei grenzt er diese Umwälzungen im "gesellschaftlichen Fundament" ab von "politischen Überlagerung" wie etwa der Abschaffung von Gewaltherrschaft.

"Für viele", so Claussen, "ist Amerika beängstigend", ist es ein "Schreckbild". Die USA stehen demnach für ein Gefühl der Unsicherheit, demgegenüber die "alte, vertraute Welt" Sicherheit verspricht.
...
Gesellschaft ohne ethnische Homogenität
Hinzu komme das Bild einer Gesellschaft ohne "ethnische Homogenität", wie Claussen es nennt. Für viele sei dies ein sehr beunruhigender Aspekt.
...
Antiamerikanismus als "Alltagsreligion"
Antiamerikanismus werde somit Teil eines gesellschaftlichen Durchschnittsbewusstseins, das sich zu einer Weltanschauung verhärtet. Eine "Alltagsreligion".

Gefürchtet werden gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die auf Amerika projiziert werden. Ein für den Soziologen "fragwürdiger Orientierungspunkt" in einer sich rapide verändernden Welt.

Sabine Aßmann, science.ORF.at
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Supermacht USA: Wie gespalten ist Europa? (4.6.04)
->   Europa und Amerika: Die Chance in der Krise (26.4.04)
->   Antiamerikanismus - Einst und Jetzt (24.5.03)
->   Ursachen für den wachsenden "Anti-Europeanism" in den USA (28.1.03)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010