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Europas Christen und der Islam - eine Annäherung  
  Von den weltweit 1,3 Milliarden Menschen islamischen Glaubens leben heute 15 Millionen in der EU, Tendenz steigend. Die Distanz zwischen den zwei getrennten Lebenswelten - hier Europa, dort der Orient - löst sich zunehmend auf, mehr noch: die zwei Welten sind mehr denn je vernetzt.  
Das "Schicksalsthema" "Wir und der Islam" kann nicht mehr beiseite geschoben werden. Das meinte Heinz Nußbaumer anlässlich des Ö1-Symposiums "Zukunft Europas".
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Heinz Nußbaumer
ist Spezialist für den nahöstlichen und islamischen Raum. Er ist Vizepräsident der "Österreichischen Orientgesellschaft "Hammer-Purgstall. Zwischen 1990 und 1999 war er Pressechef der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei, seither freier Publizist und politischer Berater.
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Doch die brennende Frage ist, welchen Platz den in Europa lebenden Muslimen und ihrer Kultur eingeräumt werden soll. Ein klares Bild der islamischen Welt ist von unserer - europäischen Seite - schwer zu zeichnen. Zu wechselvoll war die Geschichte von immens reichem Kulturaustausch und gegenseitiger Gewalt während der Kreuzzüge.
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Zur gemeinsamen Geschichte von Europa und Islam
"Ohne Mohammed kein Karl der Große", sagen Historiker heute. Denn das Ringen um ein gemeinsames Europa hat viel mit der Abwehr des Islam zu tun. Doch ist der Islam älter als "Europa": Zur Zeit Mohammeds existierte es noch nicht als politischer Begriff. Die Araber waren über einen langen Zeitraum hinweg das führende Kulturvolk der Erde - mehr als doppelt so lang wie die Griechen. Und in der "goldenen Zeit" des Islam - die Symbiose von Juden, Christen und Muslimen im mittelalterlichen Andalusien - zeigte der Islam weniger Tendenzen zum Fundamentalismus als das Christentum.
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Dämonisierung des Islam
Während bis ins 14. Jahrhundert hinein die arabische Überlegenheit in Medizin, Baukunst und Wissenschaft anerkannten, dämonisierten gleichzeitig christliche Monarchen den Islam als Bedrohung, der ihnen das Abendland streitig machte. Während der Kolonialzeit legitimierten sich die Kolonialherren mit ihrem "gerechten Kampf gegen Rückständigkeit und Despotie".

Und seit Khomeini verbindet man das Bild des Islam mit Gewalt und Fanatismus.
Kluft nicht kleiner geworden
Doch auch von der anderen Seite gibt es Stereotypen: Der Zweikampf mit dem "gotteslästerlichem Christentum" bis 1683 vor den Toren Wiens gilt als zentrales Movens der Geschichte von Morgen- und Abendland.

Die Kluft zwischen Islam und Europa ist aber auch in jüngster Zeit nicht kleiner geworden, konstatierte Nußbaumer. Im Gegenteil.
Islam: Nicht Religion sondern umfassende Lebensform
Verantwortlich hierfür sind einerseits das falsche Bild der Europäer vom Islam. Das Klischee vom Milliardenschweren Ölscheich hat wenig mit den unter ärmsten Bedingungen existierenden überwältigenden Mehrheit der Muslime zu tun.

Andererseits wird eine Verständigung auch durch die traditionelle islamische Gesellschaftsordnung erschwert. Lokale Stammes- und Familienverbände erschweren den Demokratisierungs- und Einigungsprozess. Weiters versteht sich der Islam nicht nur als Religion, sondern als umfassende Lebensform: Kirche und Staat sind im Islam untrennbar miteinander verbunden.
Schuld ist der Westen
Dass Reformer wie Atatürk oder Nasser die Trennung von Kirche und Staat vorantrieben, führte bei einigen erst recht zum Fundamentalismus. Denn die Abhängigkeit von Großmächten und die Entfremdung vom eigenen Volk ließ den Islam für die hungernden Massen als Heilsbringer erscheinen.

Die Schuld an diesem Dilemma wird meist dem Westen in die Schuhe geschoben. Kaum einer sieht das Übel in der eigenen Gesellschaftsstruktur.
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Der Fundamentalismus
Fundamentalismus bedeutet in erster Linie (und legitimerweise) ein "Zurückgehen zu den eigenen Wurzeln". Ein Problem entsteht dann, wenn die eigene Wahrheit absolut gesetzt und mit Gewalt verteidigt wird. Der Fundamentalismus ist außerdem kein rein islamisches Phänomen. Man denke nur an protestantische Sekten in den USA und jüdische Siedlerbewegungen in Israel. Und: Auch im Islam stellen die Gewaltbereiten eine kleine Minderheit dar.
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Angst vor der Religiösen Bedeutungslosigkeit
Das Gefahrenpotential im Islam ist jedoch höher als bei anderen Religionen. Denn die politische Instabilität ermöglicht es radikalen Gruppen, blitzartig Anhänger zu mobilisieren.

Am schwerwiegendsten ist aber wohl der Kampf gegen den verderbten Westen (Alkohol, Drogen und eine permissive Sexualmoral), der nicht regional begrenzt ist, sondern weltweit geführt wird.

Dahinter steht die Angst, auf eine bloße Religion reduziert zu werden - und nicht als gesellschaftliche und politische Ordnung - und eines Tages in ähnliche Bedeutungslosigkeit zu verfallen wie das Christentum im Westen, meint Nußbaumer.
Was kann man tun?
Was nun kann Europa zum Abbau der Feindbilder tun, und was die hier lebenden Muslime, fragt Nußbaumer. Lobend erwähnt er eine Initiative der EU, den "Barcelona-Prozess", ein Versuch, eine Partnerschaft zwischen Europa und dem Orient herzustellen.
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Barcelona Prozess
Europa tritt hier erstmals eigenständig auf und nicht als Juniorpartner der USA. Und zum ersten Mal demonstrieren Europa und der Islam, dass ihre Zukunft untrennbar miteinander verbunden ist. Ein wirtschaftlicher Aufholprozess wird angekurbelt, der erstmals von einem Gemeinschaftsgefühl beseelt ist. Doch geht es in diesem Prozess nicht nur um Geld. Auch die gemeinsame Geschichte soll aufgearbeitet werden.
->   Barcelona Prozess
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Umgang mit Muslimen in Europa
Die innere Dimension der Annäherung zwischen Europa und Islam aber bleibt der Umgang mit den in Europa lebenden Muslimen. Weitgehend haben sie mit unserem demokratischen Regierungssystem kein Problem. Doch sind einige vom westlich-laizistischen Lebensstil überfordert. Und sie wollen ihre kulturelle Identität wahren, bis hin dass sie eines Tages ihre Muezzine auch hier hören können wollen.

Zu einer Annäherung können beitragen ein Ende der "Ghettoisierung" dieser Bevölkerungsgruppen sowie ein höhere Akzeptanz ihrer Andersartigkeit. Von muslimischer Seite wäre zu wünschen eine Anerkennung der westlichen Trennung von Kirche und Staat.

Doch die Annäherung, ja die notwendige Verzahnung beider Systeme ist laut Nußbaumer nicht aufzuhalten. Mit Goethe: "Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen!"

(red)
Weitere Beiträge des Ö1-Symposiums:
->   Arbeit ohne Grenzen?
->   Einwanderung: Für Europa lebensnotwendig
->   Leopold März: Der Konsument im Paradigmenwechsel
->   Sonja Puntscher-Riekmann und Rudolf Hribek über Demokratisierung und die künftige "Verfassung" der EU
->   Vaclav Klaus: Tschechien zu schnellem EU-Beitritt gezwungen
->   Nachhaltige Visionen für Europa (Michaele Schreyer, Jens Reich und Franz Josef Radermacher)
->   Thomas Klestil: Fenster, Tore, Brücken bauen
->   Jens Reich: Europa - aber welches?
->   Zukunft Europas: Eine Vorschau
 
 
 
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01.01.2010