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Der tschechische Blick auf Wien  
  Wenn Wien an seine Zeit als Hauptstadt der Monarchie zurückdenkt, dominiert meist das Bild eines pulsierenden Magneten, von dem alle Völker angezogen waren. Dass viele Tschechen einen anderen Eindruck hatten, zeigt die Bohemistin und Literaturwissenschaftlerin Christa Rothmeier in einem neuen Buch.  
Die entzauberte Idylle
"Zwischen Bewunderung und Ablehnung" schwankten die Beschreibungen Wiens, die tschechische Schriftsteller in ihre Werke einflochten.

Das literarische Schaffen von rund 40 Autoren nahm Rothmeier zum Ausgangspunkt für ihr umfassendes Werk.
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Das 734 Seiten starke Buch "Die entzauberte Idylle. 160 Jahre Wien in der tschechischen Literatur" ist im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erschienen (ISBN 3-7001-3261-1) und kostet 50 Euro.
->   Das Buch im Verlag der ÖAW
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Zeitreise bis in die Gegenwart
Der Zeithorizont des Buchs reicht von der Mitte des 19. Jahrhunderts, als ein "Bänkellied" beklagte, dass Wien sich 1848 an die Magyaren, "die Verräter", verkauft habe, bis in die Gegenwart.

Durch die zahlreichen Textausschnitte gelingt es der Autorin, die auch als Lehrbeauftragte für tschechische Literatur des 20. Jahrhunderts am Institut für Slawistik der Uni Wien unterrichtet, den Wandel des Wienbilds facettenreich und unterhaltsam nachzuzeichnen.
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Wien als größte tschechische Stadt
Um 1900 hatte Wien mehr Einwohner mit "böhmisch-mährisch-slowakischer Umgangssprache" als Prag. Rund 103.000 Einwohner wurden mit diesem Vermerk offiziell registriert, wie die Historikerin Monika Glettler in einem Einführungskapitel zum "tschechischen Wien historisch" festhält. Auf Seiten der Tschechen schätzte man die Zahl der Landsleute in Wien sogar auf rund eine halbe Million.

Sie waren nicht nur unter den Fabriksarbeitern - hier vor allem in den Ziegeleien - stark vertreten, sondern auch in Handwerk und Gewerbe. Um 1900 waren rund 28 Prozent der Tschechen und Slowaken in Wien als Schneider oder Schuhmacher registriert.
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Kritik durch "nationales Erwachen"
Besonders starke Kritik an Wien äußerten die Schriftsteller, die die Stadt teils aus beruflichen Gründen, teils auf Reisen erkundeten, um die Jahrhundertwende. Beeinflusst vom "nationalen" Erwachen der Tschechen als Volksgruppe und der wachsenden Kritik an der repressiven Politik des Kaiserhauses konnten sich nur wenige mit Wien anfreunden.

"Eine große ausgedehnte Stadt - aber es ist nicht Prag", schrieb etwa Josef Svatopluk Machar, der als Bankbeamter rund zwanzig Jahre in Wien lebte und als maßgeblicher Repräsentant der tschechischen literarischen Moderne gilt. "Die Seele dieser Stadt war mir fremd, sie sprach nicht zu mir, und wenn sie zu mir sprach, war sie mir zuwider."

Ähnlich äußerte sich auch der Avantgardist Richard Weiner, der 1913 an seine Eltern schrieb: "Überall kann ich freier atmen als in Österreich. Es gibt keinen Staat, der sich seiner Schwäche dermaßen bewusst und gleichzeitig zu eingebildet wäre."
Versöhnung in den 60er Jahren
Deutlich zum Positiven wendete sich das Verhältnis der tschechischen Intellektuellen zu Wien und Österreich in den 60er und 70er Jahren.

Zuerst knüpfte die in der CSSR im "Prager Frühling" entstandene Avantgarde rund um Bohumila Grögerova und Josef Hirsal Bande zu Ernst Jandl und Friederike Mayröcker.

Zum ausdrücklichen Ort der Sehnsucht wurde Wien in den 70er Jahren, und wieder war die Politik daran nicht unbeteiligt: Bundeskanzler Bruno Kreisky bot den Unterzeichnern der "Charta 77", eines 1977 veröffentlichten Aufrufs zur Achtung der Menschenrechte, politisches "Exil" in Österreich an.
Tschechische Zeitschrift in Wien herausgegeben
Zahlreiche Autoren, darunter so bekannte Namen wie Pavel Kohout, Ivan Binar oder Eugen Brikcius nutzen diese Chance. Mit Wien verbanden sie die Hoffnung, wieder unbehelligt publizieren zu können.

"Es bildete sich (...) erstmals in der Geschichte des tschechischen Wien eine größere Gruppe von Künstlern und Autoren, die (...) mit der Zeitschrift 'Paternoster' sogar ein überregional bedeutsames Publikationsorgan besaß", schreibt die Literaturwissenschaftlerin Christa Rothmeier.

"Kritik, und trotzdem eine fast liebevolle Beziehung", so fasst Rothmeier das Verhältnis der Tschechen zu Wien zusammen - ihrer Einschätzung nach eine Grundlage, auf der sich aufbauen lässt.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 9.11.04
->   Institut für Slawistik der Uni Wien
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01.01.2010