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Die Grenzen der grenzenlosen Pressefreiheit  
  Pressefreiheit gilt vielen Menschen als ein Garant einer demokratischen Gesellschaft. Keine Frage also, möchte man annehmen, dass diese innerhalb der Europäischen Union eine Selbstverständlichkeit ist. Doch wie Eoin O'Carroll, derzeit als Junior Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, in einem Gastbeitrag schreibt, existieren in vielen Ländern noch Gesetze zu den Tatbeständen "Beleidigung" und "Verleumdung". Zumindest theoretisch können diese auch gegen Journalisten angewendet werden.  
Pressefreiheit in der Europäischen Union

Von Eoin O'Carroll

"Der Präsident ist ein korrupter, gefährlicher und verantwortungsloser Dummkopf": In Boston würde diese Aussage sehr wahrscheinlich mit einem erhobenen Glas und zustimmendem Nicken quittiert.

Doch in allzu vielen Ländern kann solcher Spott über einen Politiker oder Beamten strafrechtliche Folgen haben.

Dies gilt selbst für die Europäische Union: Laut einem im März veröffentlichten Bericht der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) existieren in jedem Land der EU - mit Ausnahme von Zypern - Gesetze, die Rufschädigung mit Geld- oder Gefängnisstrafen ahnden.
->   Der Bericht der OSZE (pdf)
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Seminar am IWM: Mittwoch, 6. April
Eoin O¿Carroll stellt seine Forschungs- und Rechercheergebnisse zur Pressefreiheit am 6. April um 14.30 Uhr in einem Junior Visiting Fellows' Seminar unter dem Titel "Regardless of Frontiers: Press Freedom in the EU's Newest Members " am IWM, Spittelauer Lände 3, 1090 Wien zur Diskussion. Interessierte sind herzlich eingeladen.
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM)
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Recht auf freie Meinungsäußerung
Tatsächlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt Verurteilungen wegen Beleidigung aufgehoben.

Diese seien nicht vereinbar mit Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert - ¿ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen.¿
->   Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
->   Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
Gesetzestexte ohne Anwendung
Obwohl sie im Gesetz stehen, wenden die meisten Regierungen der Europäischen Union die Paragraphen zu den Tatbeständen Beleidigung und Verleumdung heute nicht mehr gegen Journalisten an.

Beispielsweise hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 1997 die Verurteilung von Gerhard Oberschlick aufgehoben. Dieser hatte 1990 in der Zeitschrift "Forum" den Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider als "Trottel" bezeichnet.
Beispiel Polen: Drei Monate Haft
Einige Länder wenden diese Gesetze jedoch nach wie vor an: Im letzten Sommer verbrachte der polnische Journalist Andrzej Marek drei Monate im Gefängnis - für einen Artikel, in dem er einem lokalen Polizeioberen Korruption vorgeworfen hatte.

Marek hatte Glück: Nach dem polnischen Strafgesetzbuch hätte er zu zwei Jahren verurteilt werden können. Und hätte der Journalist über den Präsidenten seines Landes geschrieben, so hätte das Strafmaß bis zu zehn Jahre Gefängnis betragen können.
Kein Einzelfall
Andrzej Marek ist kein Einzelfall: Im vergangenen Jahr wurden Journalisten in Ungarn, Italien und Portugal zu Gefängnisstrafen auf Bewährung verurteilt. Es handelte sich um Fälle, die das "Committee to Protect Journalists" in New York als "Bemühungen, die Berichterstattung über Regierungsvergehen und Kritik an öffentlichen Personen zu unterdrücken" bezeichnete.
->   Committee to Protect Journalists
Ungewollter Schaden
Und selbst Länder, die ihre diesbezüglichen Gesetze nicht länger anwenden, verursachen damit Schaden:

Als 2003 das Verfassungsgericht von Weißrussland die Entscheidung bestätigte, Journalisten für das "Verbrechen der Beleidigung von Ehre und Würde" des Diktators Alexander Lukaschenko in Arbeitslager zu schicken, verwies das Gericht ausdrücklich auf die Existenz ähnlicher Gesetze in Polen, Litauen, Lettland, Spanien und Deutschland.

Es rechtfertigte damit nicht nur die Existenz solcher Paragraphen im weißrussischen Strafgesetz, sondern auch die Länge der Gefängnisstrafen.
Verleumdung goes global
Und dieser Tage reicht es nicht einmal aus sicherzustellen, dass man die Gesetze des eigenen Landes befolgt. Der Wiener Cartoonist Gerhard Haderer fand dies kürzlich heraus, als ihn ein griechisches Gericht in Abwesenheit zu sechs Monaten Gefängnis verurteilte - für seinen Comic "Das Leben des Jesus".

Die offizielle Anklage? Blasphemie, ein "Verbrechen", das in Österreich nicht einmal existiert. Gemäß EU-Rechtshilfeabkommen könnte Haderer in Österreich verhaftet und nach Griechenland ausgeliefert werden, um dort seine Strafe abzusitzen.

Bevor er seine gerichtliche Vorladung erhielt, war dem Stern-Cartoonisten nicht einmal bewusst, dass sein Buch in Griechenland verkauft wurde.
->   Das Leben des Jesus (Ueberreuter)
Sonderfall Internet: Weltweite Strafverfolgung
Tatsächlich ist die physische Kopie eines Buchs oder einer Zeitschrift nicht notwendig für eine Klage bzw. Strafverfolgung. In den vergangen Jahren haben Gerichte in Australien, Großbritannien und Kanada für Publikationen im Internet entschieden: Der Ort, an dem der beleidigende Artikel downgeloadet wird, gilt als Ort der Publikation.

Damit kann man also auf der anderen Seite der Erde Gesetze brechen, ohne jemals sein Zuhause zu verlassen.
Schwächung der Grenzen: Auch positive Folgen
Die Schwächung nationaler Grenzen ist jedoch nicht nur schlecht für die freie Meinungsäußerung: Georgien, Kroatien, die Ukraine und Moldawien haben jeweils ihre Strafgesetze wegen Verleumdung abgeschafft - unter dem Druck internationaler Menschenrechtsorganisationen.

Und die in Aussicht gestellte EU-Mitgliedschaft brachte Rumänien und Bulgarien dazu, ihre Gesetze in Bezug auf den Tatbestand der Beleidung zu reformieren.
Beleidigung der freien Meinungsäußerung
Dennoch, so lange etablierte Demokratien diese archaischen Gesetze beibehalten, unterminieren sie damit Argumente für die Abschaffung dieser Gesetze in repressiven Regimen.

Es ist also an der Zeit, diese Gesetze überall abzuschaffen - denn sie sind eine Beleidigung der freien Meinungsäußerung.
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Informationen zum Autor
Eoin O'Carroll macht seinem Abschluss im Fach Journalismus am College of Communication der Boston University und ist derzeit als Junior Visiting Fellow im Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien zu Gast. Das Thema "Freiheit der Meinungsäußerung" untersucht er derzeit mit Bezug auf die Europäische Union sowie weltweit.
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01.01.2010