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Ernst v. Glasersfeld: Die Wirklichkeit als Konstruktion  
  Der so genannte radikale Konstruktivismus steht für die erkenntnistheoretische Auffassung, dass wir die Wirklichkeit subjektiv "erfinden" - d.h. konstruieren - und nicht objektiv "entdecken". Einer der wichtigsten Vertreter dieser Denkströmung ist Ernst von Glasersfeld, der seit 1970 als Professor für kognitive Psychologie an der Universität Georgia und seit seiner Emeritierung an der University of Massachusetts tätig ist. Der gebürtige Österreicher hielt vergangenen Mittwoch einen Vortrag an der Universität Wien.  
Was das Auge dem Gehirn des Frosches mitteilt
"What the frog's eye tells the frog's brain." So lautete der Titel eines Berichts, den vor 46 Jahren ein Gruppe von vier Forschern des Massachusetts Institute of Technology verfasste. Die Autoren der Studie - Warren McCulloch, Jerry Lettvin, Humberto Maturana und William Pitts - untersuchten darin die Prinzipien der Wahrnehmung an einem einfachen Modell - nämlich dem Frosch.
Überleben zählt
Die Quintessenz des mittlerweile berühmten Aufsatzes: Die neuronalen Signale, aus denen das Tier sich seine Empfindungswelt zusammenbaut, sind denkbar einfach. Aus der Kombination von Lichtpunkten, Kontrasten und Bewegungen stellt der Frosch Informationen her, die er für sein Überleben braucht.

Als potenzielle Nahrung wird etwa interpretiert, was klein ist und sich quer durch das Gesichtsfeld bewegt. Dass dabei die Welt nicht erschöpfend dargestellt wird, ist irrelevant. Was zählt, ist das Überleben. Und das tut der Frosch seit Jahrmillionen mit Erfolg.
->   What the frog's eye tells the frog's brain (pdf-Datei)
Auch wir entwerfen nur Modelle
Bild: science.ORF.at/rc
In gewisser Hinsicht gilt das selbe auch für uns, meinte der 88-jährige Ernst von Glasersfeld bei seinem Vortrag an der Universität Wien.

Wenn wir Wahrnehmen oder Wissen erwerben, dann tun wir dabei nichts anderes, als mehr oder weniger brauchbare Modelle zu entwerfen.

Und: Dabei wird die Welt nicht gespiegelt, sondern neu geschaffen, konstruiert. So die Grundaussage seiner Erkenntnistheorie, die er selber "Theorie des Wissens" nennt.
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Kein Spiegel der Realität
"Die Theorie des Wissens lässt sich auf zwei Formeln reduzieren. Der erste Punkt ist, dass das Wissen, das jeder von uns im Lauf seines Lebens erwirbt, nicht von anderen übernommen werden kann, sondern dass es konstruiert werden muss. Der zweite Punkt ist, dass das Wissen ein Instrument der Anpassung ist - und nicht ein Spiegel der Realität, d.h. der Welt, wie sie ohne uns sein mag", so Ernst von Glasersfeld im Gespräch mit science.ORF.at.
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"Objektivität ist eine Wahnvorstellung"
Dieser Standpunkt hat Tradition. Schon Xenophanes wusste: "Und das Genaue freilich erblickt kein Mensch und es wird auch nie jemand sein, der es weiß (erblickt hat)... Schein haftet an allem."

Heute wird das freilich etwas knackiger formuliert: "Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden", liest man etwa bei Heinz von Förster, mit dem von Glasersfeld lange Jahre zusammengearbeitet hat.
->   Fragmente des Xenophanes bei Wikisource
Sprache der Neuronen: Ein Einheitsbrei
Zur Untermauerung der These, dass der direkte Kontakt mit der Welt "da draußen" unmöglich sei, wird etwa gerne folgender neurobiologischer Befund herangezogen.

Wenn beispielsweise Licht und Schall in die Sprache der Nervenzellen übersetzt werden, dann verlieren sie ihre ursprüngliche Spezifität. Anders ausgedrückt: Die Übersetzung vernichtet den Unterschied zwischen elektromagnetischen Wellen, Schallwellen und allen anderen Reizen.

Was übrig bleibt, ist ein Einheitsbrei von Aktionspotenzialen - und die sehen am Hörnerv genau so aus wie am Nervus opticus.
Donner sehen und Blitze hören
Was von uns als bestimmte Sinnesempfindung interpretiert wird, hängt ausschließlich vom Ort der Verarbeitung im Gehirn ab: Würde man den Hör- und Sehnerv vertauschen, könnte man also den Donner sehen und Blitze hören.

Schluss der Konstruktivisten unter den Neurobiologen: Wir erfinden die Welt also gewissermaßen neu, wenn wir sie wahrnehmen.
Abschied vom Absoluten
Das sei zwar schön und gut, meint von Glasersfeld im Gespräch mit science.ORF.at: Trotzdem könnten auch die empirischen Wissenschaften keinen Wahrheitsbeweis für den radikalen Konstruktivismus liefern. Sie entwerfen nämlich selber mehr oder weniger plausible Modelle. Konstruktionen eben, mehr nicht.

Folglich könne auch seine Sichtweise keine objektive Gültigkeit beanspruchen. Das habe aber auch einen Vorteil: "Der Konstruktivismus macht das Leben schöner und einfacher, weil man den Drang verliert, recht zu haben."

Robert Czepel, science.ORF.at, 13.5.05
->   Texte von Ernst v. Glasersfeld (oikos.org)
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Ernst v. Glasersfeld widmet sich auch das Ö1-Dimensionen - Magazin: Freitag, 13. Mai, 19.05 Uhr, Radio Österreich 1.
->   Mehr zu der Sendung in oe1.ORF.at
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01.01.2010