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Legasthenie: "Umweltlärm" erschwert das Verständnis  
  Die Lese-Rechtschreibschwäche gehört zu den häufigsten Lernstörungen. Aber obwohl geschätzte zehn Prozent der Kinder und Erwachsenen als "Legastheniker" gelten, bewegte sich die Forschung bei der Suche nach den Gründen im Reich der Vermutungen. Eine viel versprechende These liefern nun US-Psychologen: Legastheniker können unwichtige Signale nicht vom Essenziellen trennen, wodurch sich ihnen der Sinn eines Wortes nur unter Mühen erschließt.  
"Umweltlärm" lässt Neuronen zu stark feuern
Konkret untermauerten die Forscher mit ihrer Studie die These, dass die Lese-Rechtschreibschwäche auf einer gestörten Wahrnehmung von Phonemen, den kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheiten in einer Sprache, beruht.

Sie vermuten, dass "Hintergrundrauschen", also Reize in der unmittelbaren Umgebung des gerade aktuellen Inhalts, die Neuronen im Gehirn zu einem fehlgeleiteten Feuer anregt und damit die Konzentration auf das Wichtige erschwert wird.
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Die Studie "Deficits in Perceptual Noise Exclusion in Developmental Dyslexia" von Anne Sperling und Kollegen ist am 29. Mai 2005 als "Advance Online Publication" im Fachmagazin "Nature Neuroscience" erschienen (DOI:10.1038/nn1474).
->   Abstract in Nature Neuroscience
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Suche nach den Gründen für Legasthenie
Auf der Suche nach den Gründen für Legasthenie wurden bisher die verschiedensten Thesen geäußert: In den 1920er Jahren glaubte man, dass legasthenische Kinder Wörter rückwärts aussprechen, weil ihr Sehsinn gestört ist.
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Legasthenie
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Legasthenie als eine Entwicklungsstörung der Lese- und Rechtschreibfähigkeiten. Daneben gibt es auch eine das Rechnen betreffende Form von Legasthenie ("Dyskalkulie"). Nach Schätzungen sind rund zehn Prozent der Menschen von Legasthenie betroffen.
->   Mehr über Legasthenie bei Medicine-Worldwide.de
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Probleme mit Phonemen
In den 1970er Jahren entstand jene These, die die Psychologen vom Georgetown University Medical Center in Washington und der University of Wisconsin-Madison nun mit modernen Methoden untermauern: Dass die Probleme beim Lesen aus der Schwierigkeit resultieren, Phoneme zu erkennen und sie sinnvoll aneinander zu reihen.
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Das Phonem
Unter einem "Phonem" versteht man die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit eines Sprachsystems. Um ein Wort zu verstehen, muss man diese Einheiten identifizieren und sie zu einem sinnvollen Ganzen vereinen. Für das Wort "Hose" etwa muss man die drei Phoneme "ho-", "oh" (im Sinn eines langen Vokals) und "-se" unterscheiden.
->   Mehr über das Phonem bei Wikipedia.de
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Sprachverarbeitung im Gehirn gestört?
"Legasthenische Kinder entwickeln kein Wissen über Phoneme, was sich kaum auf die gesprochene Sprache auswirkt, sehr massiv aber auf Geschriebenes", so Mark Seidenberg von der University of Wisconsin-Madison.

Als Grund wurde vermutet, dass die Verarbeitung visueller Reize im Gehirn gestört ist. Besonders unter Verdacht geriet der "magnozelluläre Pfad", einer von zwei visuellen Pfaden im Gehirn, der für die Verarbeitung von Gefühlen und Helligkeit zuständig ist. Der zweite ist der "parvozelluläre Pfad", der Details und Farben prozessiert.

Wenn der magnozelluläre Pfad gestört ist, tritt auch Legasthenie auf, so lautete die weit verbreitete These, die aber laut der aktuellen Studie nicht stimmt.
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Der Versuch
28 legasthenische Kinder und 27 Kinder ohne Schreib-Lese-Schwäche bekamen Muster aus dunklen und hellen Balken zu sehen, die beide Pfade im Gehirn aktivierten. Die Kinder mussten im Test sagen, auf welcher Seite des Bildschirms das Muster auftauchte.
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Erkennungsrate sank bei unruhigem Hintergrund
Wurden die Muster auf ruhigem schwarzen Grund gezeigt, konnten die Legastheniker genauso wie die Kinder ohne Schwäche alle Bilder am Schirm ausmachen.

Wurden die Muster aber von anderen Signalen "gestört", etwa indem sie auf einem unruhigen Hintergrund - vergleichbar dem Bild eines Sendeausfalls im Fernsehen - erschienen, war die Erkennungsrate bei den legasthenischen Kindern deutlich schlechter als bei der Kontrollgruppe. Dabei war es egal, welcher der beiden Sprachverarbeitungspfade im Gehirn angesprochen wurde.
"Umweltlärm" wichtiger als Gehirnpfade
"Unsere Arbeit bestätigt, dass die Unfähigkeit, 'Lärm' im Sinn einer störenden Umgebung ignorieren zu können, eine größere Rolle bei Legasthenie spielt als die beiden Signal verarbeitenden Pfade im Gehirn", so die Forscher.

So wie Legastheniker Muster auf einem unruhigen Hintergrund nicht erkennen können, hätten sie auch bei der Identifizierung von Phonemen Schwierigkeiten. Lehrer sollten deshalb sowohl beim Reden als auch beim Schreiben auf der Tafel darauf achten, dass die Begrenzung von Wörtern klar zu erkennen ist.
Fehlgeleitetes Neuronen-Feuer
Als Grund vermuten Anne Sperling und Mark Seidenberg neurologische Prozesse: Möglicherweise würden die Neuronen im Gehirn bei "Hintergrundrauschen" falsch feuern und dadurch die Grenzen zwischen Essenziellem und Unwichtigem verschwinden lassen.

[science.ORF.at, 30.5.05]
Mehr über Legasthenie in science.ORF.at:
->   Legasthenie: Kultur bestimmt betroffene Hirnregion (2.9.04)
->   Legasthenie kann Balance und Motorik reduzieren (17.2.02)
->   Bewegungstraining gegen Legasthenie (31.1.02)
 
 
 
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01.01.2010