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100. Geburtstag Sartres: Philosoph des Widerspruchs  
  Das Werk von Jean-Paul Sartre zeichnet sich durch zahlreiche Widersprüche und Revisionen aus. Der radikale Befürworter der menschlichen Freiheit gestattete sich die Freiheit, seine philosophischen Reflexionen zu korrigieren oder gar zu verwerfen. Sein Denken verstand er als Prozess, der sich nicht in einem philosophischen System mumifizieren lässt. Am Dienstag wäre er 100 Jahre alt geworden.  
Neigung zum Widerspruch
Bernard-Henri Levy spricht in der Sartre-Biografie von einem "Fachmann des Widerrufs" und einem "Meister der Untreue", der stets bereit war, "die Versteinerungen seiner eigenen Ideen zu zertrümmern".

Dieser Hang zur Destruktion zeigte sich schon nach dem Zweiten Weltkrieg: Da bezeichnete er sein Hauptwerk "Das Sein und das Nichts" als das Produkt eines kleinbürgerlichen Denkens.

Er setzte sich für die Gemeinschaft ein und orientierte sich an den Aussendungen der Kommunistischen Partei Frankreichs.
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Literaturtipp: Bernard-Henri Levy: Sartre. Der Philosoph des 20. Jahrhunderts, dtv
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Generalangriff gegen sein Werk als blinder Philosoph
Sartres Generalangriff gegen sein gesamtes Werk erfolgte im Alter von 70 Jahren. Sein gesundheitlicher Zustand war besorgniserregend. Er wirkte gebrechlich, war auf Hilfe angewiesen.

Besonders machte ihm seine Erblindung zu schaffen. "Mit meinem Beruf als Schriftsteller ist es zu Ende", konstatierte er. Dennoch arbeitete er weiter - mit Hilfe seines Sekretärs Benny Levy.
Von Mao zu Moses
Der aus einer jüdischen Familie stammende Benny Levy hatte eine bewegte Vergangenheit: Er kam als Flüchtling nach Frankreich, bewegte sich im marxistisch-leninistischen Umfeld des Philosophen Louis Althusser, wurde zum militanten Maoisten und konvertierte zum Judentum.

Bernard-Henri Levy beschreibt ihn als charismatischen Intellektuellen, von dem "eine spröde Kraft, eine unerklärliche Ausstrahlung ausging".
Dialog statt Dialektik
Sartres Erblindung veranlasste ihn zu einer neuen Form der philosophischen Produktion. Er, der zeit seines Lebens die Einsamkeit des Intellektuellen als Voraussetzung schriftstellerischer Tätigkeit ansah, arbeitete nun gemeinsam mit Benny Levy zusammen.

Der elitäre Solipsismus wich einer Dialogphilosophie, die zu einem neuen Buch mit dem Titel "Macht und Freiheit" führen sollte.
Ziel der Zusammenarbeit
Das Ziel der Koproduktion war hoch gesteckt: In einem Gespräch mit Michel Sicard verkündete Sartre: "Ich schreibe ein Werk, das alles, was ich philosophisch gedacht habe, vollkommen verändern wird und das, so ich es vollenden kann, von 'Das Sein und das Nichts' und der 'Kritik der dialektischen Vernunft' nichts mehr stehen lässt".
Verbaler Kleinkrieg
Diese Ankündigung einer völligen Destruktion des eigenen Werkes verstörte die "Sartre-Familie" um Simone de Beauvoir. Es entwickelte sich ein Kleinkrieg mit heftigen verbalen Attacken. Der Kreis um Beauvoir sprach von der "Gehirnwäsche eines Greises" durch Benny Levy.

Sogar antisemitische Bemerkungen tauchten auf: So bemerkte John Gerassi, der ebenfalls zahlreiche Gespräche mit Sartre geführt hatte, dass Benny Levy Sartre, "diesen Freigeist, diesen Voltaire verjudet habe".
Aufruf zur Brüderlichkeit
Sartres Äußerungen klingen befremdlich: Er sagt sich von der revolutionären Gewalt los, die er in der "Kritik der dialektischen Vernunft" noch verteidigt hat. Dort findet sich die Bemerkung, dass die Teilnahme an einem terroristischen Mord ein praktisches Band der Liebe und Brüderlichkeit herstelle.

Er plädiert nun für eine Moral "die nur mit dem Du und für das Du begriffen werden kann". Sartre entdeckt das dialogische Philosophieren, wie es von Martin Buber oder Emmanuel Levinas vertreten wird.
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Zitat: "Die Moral muss den Gedanken der Brüderlichkeit so weit ausdehnen, bis er zu einer einzigartigen und offenkundigen Verbindung zwischen allen wird."
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Entdeckung der Gemeinschaft ...
Sartre schwankte stets zwischen der Ablehnung und Verklärung der Gemeinschaft, In "Das Sein und das Nichts" zeichnete Sartre das Schreckgespenst einer Gemeinschaft, die den Einzelnen zum Akteur einer sozialen Rolle degradiert und somit am authentischen Leben hindert.

In der "Kritik der dialektischen Vernunft" verherrlicht er den Menschen, der seine Integration in die Gemeinschaft mit dem Verlust seiner Individualität bezahlen muss.

Im jüdischen Denken entdeckt Sartre den "Wunsch nach Gesellschaft", der jedoch den Wert des Individuums bestehen lässt.
... und der Religion
Besonders erstaunlich ist Sartres Hinwendung zur Religion. Der "freie Geist", der die Religion bloß als Mittel betrachtete, das Subjekt zu entmündigen, liest nun die Bibel und den Talmud.

Er behauptet, dass ihm beide Bücher "genauso viel zu denken geben wie Platon". Sein Ziel ist es, in der noch vorhandenen Lebenszeit die Offenbarung der Bibel mit dem platonischen Denken in Einklang zu bringen.
Fazit: Prinzip Hoffnung
"Die Welt scheint hässlich, schlecht und hoffnungslos. So sagt die stille Verzweiflung eines alten Mannes, der in ihr sterben wird. Doch ich leiste ihr Widerstand und ich weiß, dass ich in der Hoffnung sterben werde; diese Hoffnung gilt es zu begründen."

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft
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Ö1-Sendungen zum 100. Geburtstag von Sartre
Fr. 17.06.05, 19:30 Uhr: Denken und Leben - Annäherungen an die Philosophie in biografischen Skizzen von und mit Konrad Paul Liessmann.
Fr. 17.06.05, 22:15 Uhr (WH: So. 19.06.05, 21:15 Uhr): Tonspuren - Das Spiel ist aus. Der Wörterfabrikant Jean-Paul Sartre.
Mo. 20.06.05 bis Sa. 25.06.05, 06:57 Uhr: Gedanken für den Tag von Prof. DDr. Winfried Löffler zum 100. Geburtstag von Jean-Paul Sartre
Di. 21.06.05, 20:31 Uhr: Hörspiel-Studio - "Der Ekel". Von Jean-Paul Sartre. Deutsch von Heinrich Wallfisch.
Mi. 22.06.05, 21:01 Uhr: Salzburger Nachtstudio - Der Philosoph des Engagements. Zum 100. Geburtstag von Jean-Paul Sartre. Gestaltung: Nikolaus Halmer und Elisabeth Nöstlinger
->   Ö1
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->   Sartre bei Wikipedia
Mehr zu Jean-Paul Sartre in science.ORF.at:
->   Kritische Analyse zum 25. Todestag (15.4.05)
->   Der Philosoph als Provokateur (30.4.04)
->   Widersprüchlich: Jean-Paul Sartre Superstar (10.1.03)
 
 
 
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01.01.2010