News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Sozialstaat Österreich: Geschichte eines Systems mit Lücken  
  War der Sozialstaat in den 1970er Jahren noch der Superstar der innenpolitischen Diskussion, gilt er heute als "unfinanzierbarer Problemfall". Der Politologe Emmerich Talos nimmt das heurige Gedenkjahr zum Anlass, um die 60-jährige Geschichte des österreichischen Sozialstaats zu analysieren. In einem neuen Buch plädiert er dafür, den Rückbau der Sozialleistungen nicht als äußeren Zwang, sondern als politische Entscheidung zu sehen und aktuelle Herausforderungen nicht aus dem Blick zu verlieren.  
Talos weist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die steigende Zahl geringfügig und prekär Beschäftigter in Österreich hin, die durch das Netz des klassischen Wohlfahrtsstaats rutschen und eine Grundsicherung bräuchten.

Und er fordert ein Überdenken der derzeitigen Finanzierung, die über die Lohnsummen läuft und damit hauptsächlich die Arbeitskraft belastet.
...
Das Buch "Vom Siegeszug zum Rückzug: Sozialstaat Österreich 1945-2005" von Emmerich Talos ist in der von der Stadt Wien geförderten Reihe "Österreich - Zweite Republik: Befund, Kritik, Perspektive" des Innsbrucker Studienverlags erschienen.
->   Das Buch im Studienverlag
...
Bereiche und Aufstieg des Sozialstaats

Grob gefasst, besteht der österreichische Sozialstaat aus vier Bereichen: aus der Sozialversicherung und der Sozialhilfe als "Netze", aus der Regelung der Arbeitsbeziehungen (darunter fallen etwa die Stichworte Kollektivverträge und Arbeitsrecht), aus der aktiven Arbeitsmarktpolitik im Sinn der Vermittlung und Qualifizierung von Arbeitskräften und aus den familienrelevanten Leistungen.

Talos unterteilt die Geschichte des österreichischen Sozialstaats in zwei Phasen: Der "Aufstieg" habe von 1945 bis 1980 stattgefunden.

Als Idealbild, an dem sich alle Maßnahmen orientierten, galt das so genannte "Normalarbeitsverhältnis": ein Angestellter oder Arbeiter mit einer Vollzeitbeschäftigung, die er kontinuierlich, also ohne Jobwechsel ausübt und die durch das Sozialversicherungssystem möglichst gut abgesichert werden sollte.
Ausweitung der Pflichtversicherung
Der Kreis der Versicherten wurde von den 1950er bis 1970er Jahren kontinuierlich ausgeweitet - auch gegen den Widerstand der Betroffenen. Wie Talos dokumentiert, hat sich die Industriellenvereinigung gegen die Ausdehnung der Pflichtversicherung auf Unternehmer gewehrt.

Der Erfolg zeigt sich an den Zahlen: 1979 waren 99,3 Prozent der Bevölkerung krankenversichert.
Gestaltungsprinzipien
Als Prinzipien wurden verankert: Die sozialstaatliche Leistung hängt vom Einkommen über Erwerbsarbeit ab oder dem Familienstand (Mitversicherung von Angehörigen) ab. Staatliche Hilfe kommt erst dann, wenn die eigene Arbeitskraft nicht mehr zum Überleben reicht (im Fall der Fürsorge bzw. Sozialhilfe). Lohnabhängige sollen im Arbeitsprozess geschützt werden.
...
Vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung
Die bekannteste und bis heute mit Modifikationen gebräuchliche Typologie der Wohlfahrtsstaaten stammt vom dänischen Soziologen Gosta Esping-Andersen. Er unterscheidet drei Typen, je nachdem wie wichtig der Staat, der Markt und der Einzelne bzw. die Familie für die soziale Absicherung ist:

- Der liberale Wohlfahrtsstaat zeichnet sich durch eine große Bedeutung privater und familiärer Vorsorge aus (z.B. Großbritannien).

- Der konservative Staat legt Wert auf mit der Erwerbsarbeit gekoppelte Systeme (z.B. Österreich, Deutschland, Frankreich)

- Der sozialdemokratische Staat sichert den Einzelnen ab, egal ob er oder sie erwerbstätig ist oder nicht (z.B. Schweden).
->   Publikationen zum Thema Wohlfahrtsstaat (Abteilung für Staatswissenschaft, Uni Wien)
...
Kein "goldenes Zeitalter"
Von einem "goldenen Zeitalter" könne man mit Blick auf die Jahre 1945 bis 1980 aber dennoch nicht sprechen, zeigt sich der Politikwissenschaftler kritisch. Schon damals bestanden strukturelle Probleme, die sich in den letzten Jahren angesichts geänderter Rahmenbedingungen verschärft hätten:

Dass nur jene gut abgesichert sind, die einer Vollzeit-Erwerbstätigkeit nachgehen, grenzt all jene aus, die wegen familiärer Verpflichtungen, Behinderung oder Arbeitslosigkeit nicht dem "Normalarbeitsverhältnis" entsprechen.

Die Koppelung der sozialstaatliche Leistung an die Höhe des Einkommens wiederholt die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt: Sie verdienen weniger als Männer und bekommen deshalb z.B. auch weniger Arbeitslosenunterstützung.
Rahmenbedingungen und politische Verantwortung

Atypische Beschäftigungsverhältnisse im Vergleich
Richtig zur Geltung kamen diese strukturellen Probleme ab 1980, wie Emmerich Talos überzeugend darlegt. Er führt die veränderten Rahmenbedingungen - von Globalisierung und Standortwettbewerb bis hin zum demographischen Wandel mit der Überalterung der Gesellschaft - und das Zunehmen prekärer Arbeitsverhältnisse an (siehe Tabelle rechts).

Dennoch aber meint er, dass man die Politik nicht aus der Verantwortung entlassen dürfe. Denn die Art der Umgestaltung - von Reformen der Arbeitslosenversicherung, die schon unter einer SPÖ-geführten Regierung begonnen wurde, bis hin zur jüngsten Pensionsreform - sei bewusst von den Verantwortungsträgern gewählt worden.

Das Besondere an den letzten Jahren sei die Art des Eingriffs: Bei der Pensionsreform 2003 habe es sich aus politikwissenschaftlicher Sicht nicht mehr um einen "graduellen Umbau", sondern um eine "strukturelle Veränderung" gehandelt, so Talos.
Grundsicherung und Entlastung der Löhne
Der Politikwissenschaftler konstatiert den "Abgang vom traditionellen Ziel der staatlich geregelten Pensionsversicherung, nämlich der Lebensstandardsicherung im Alter".

Mit diesem Umbau könnten die geschilderten strukturellen Probleme des Sozialstaats Österreich noch verstärkt werden: Unregelmäßigkeiten in der Berufsbiografie werden die Absicherung im Alter deutlich verschlechtern.

Hier setzt Talos auch mit seinen Alternativvorschlägen an: Er fordert eine Verstärkung der "Grundsicherung", also einer Absicherung auch ohne Erwerbsarbeit, und eine Veränderung der Finanzierungsstruktur mit einer Entlastung der Löhne.
Buch bietet Fachwissen für aktuelle Diskussionen
Auch wenn das nun erschienene Buch teilweise in einem politikwissenschaftlichen Fachjargon gehalten ist, bietet es doch einen detailreichen und durchaus spannenden Überblick über 60 Jahre Sozialstaat.

Gerade angesichts der aktuellen politischen Diskussionen kann es nicht schaden, in dem mit zahlreichen Tabellen und Statistiken nachblättern und Argumente in einen historischen Kontext stellen zu können.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 24.6.05
...
Gedenkjahr 2005 in science.ORF.at
In loser Folge erscheinen in science.ORF.at redaktionelle Texte und Gastbeiträge zu dem Schwerpunkt "Gedenkjahr 2005".
->   Zu den gesammelten Beiträgen
...
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Neue Selbstständigkeit: "Prekariat" verändert die Welt (29.4.05)
->   Soziologen: Rettungsvorschläge für den Sozialstaat (12.10.04)
->   1950 bis 1980: Das Goldene Zeitalter (11.6.04)
->   Gunther Tichy: Das amerikanische Wirtschaftsmodell passt nicht für Europa (15.4.03)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010