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'Die Überflüssigen': Überflüssiger Soziologie-Begriff?  
  Kein Mensch ist gerne überflüssig. Dennoch gibt es viele Menschen, die sich so fühlen. Und noch mehr, die dazu gemacht werden. In der deutschsprachigen Soziologie wird der Begriff seit geraumer Zeit verwendet, um eine wachsende Gruppe der Gesellschaft zu beschreiben: Langzeitarbeitslose, prekär Beschäftigte, Menschen, die keine soziale Anerkennung mehr bekommen.  
In einem aktuellen Beitrag für die Zeitschrift "Transit-Europäische Revue" klopft die Soziologin Sabine Hark von der Universität Potsdam den Begriff der "Überflüssigkeit" auf seine Tauglichkeit ab.

Trifft er die ablaufenden Transformationsprozesse der Gesellschaft oder trägt er eher zu einer Verschleierung bei?
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Der Artikel "Überflüssig. Deutungsbegriff für neue gesellschaftliche Gefährdungen" ist in der Zeitschrift "Transit - Europäische Revue"
(Nr. 29, Juli 2005) erschienen, die am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) herausgegeben wird.
->   Der Text in "Transit"
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Arsenal der Begriffe: ausgeschlossen ...
In einem ersten Schritt liefert Hark einen Überblick über verschiedene Beschreibungen, die in den vergangenen Jahren die "neuen sozialen Gefährdungen" charakterisierten.

Der Systemtheoretiker Niklas Luhmann etwa sprach in seiner ihm typischen Art von einer "in die Milliarden gehenden Menge", die weltweit unter Bedingungen von Exklusion leben - wobei heute "die Mehrfachabhängigkeit von Funktionssystemen den Exklusionseffekt verstärkt".

Manuell Castells - bekannt geworden durch sein Buch der "Netzwerkgesellschaft" - diagnostizierte, dass wir uns "von einer Situation sozialer Ausbeutung zu einer Situation funktionaler Irrelevanz" bewegen, und wir einen Tag erleben werden, "an dem es ein Privileg sein wird, ausgebeutet zu werden".
... funktional irrelevant und verloren
Und selbst der liberale Rolf Dahrendorf spricht von einer "beträchtlichen Kategorie nicht nur von Verlierern, sondern von Verlorenen", die "zwar in der Gesellschaft leben, aber nicht mehr dazugehören".

Allen Theoretikern gemeinsam ist der Versuch, die Subjekte der gesellschaftlichen Veränderungen auf den Begriff zu bringen: Ausgeschlossene, funktional Irrelevante, Verlorene - zusammengefasst: Überflüssige - das sind die Armen, die Langzeitarbeitslosen, die Jugendlichen ohne Perspektive, die prekär Beschäftigten, die Migranten, im globalen Maßstab die Landflüchtlinge und Slumbewohner, wie Hark schreibt.
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Nicht flüssig genug: Nicht flexibel genug
Symptome des Wandels, der nicht nur die Ränder, sondern längst schon die "Mitte der Gesellschaft" betrifft, sind: die Erfahrung der Zufälligkeit der eigenen Biografie, die zumindest zeitweise Prekarisierung von Beschäftigung und Lebenslagen, ein Gefühl von Ungewissheit und Unsicherheit. Verbrämt wird das Subjekt dieses Wandels speziell in der deutschen Debatte gerne als "Ich-AG".

Sabine Hark: "Sinnbildlich könnte man daher sagen, dass aus Sicht der Gesellschaft diejenigen überflüssig sind, die die Anforderung - aus welchen Gründen auch immer -, nicht bedienen können, sich flüssig zu verhalten, auf jedwede Kontingenz flexibel zu reagieren, ... die nicht beweglich genug sind, um Chancen zu ergreifen, bevor ein anderer es tut."
->   Neue Selbstständigkeit: "Prekariat" verändert die Welt (29.4.05)
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Überholt: Welt der Chancen - Welt des Ausschlusses
Die Soziologin kritisiert nun den Standpunkt dieser Beschreibungen: Dabei handle es sich "in der Regel um eine Außenperspektive, ... die vom Markt her denkt."

Implizit liege diesen Diagnosen eine "Zwei-Welten-Theorie von Exklusion" zugrunde: auf der einer Seite eine "Welt der Chancen und der Berücksichtigung", auf der anderen Seite "eine Welt des Ausschlusses und der Ignorierung".

Diese starre Trennung hält Hark für ein überholtes Konzept, das sich an historischen Vorbildern aus dem 19. Jahrhundert anlehnt.
Zugleich von Drinnen und Draußen
Gesellschaftlicher Ausschluss sei heute eher als Verhältnis und nicht als fixer Zustand zu denken - als "Zugleich von Drinnen und Draußen, als Ausschluss nicht aus der Gesellschaft, sondern in der Gesellschaft".

Menschen, so argumentiert Hark weiter, werden nicht plötzlich in ein imaginiertes Draußen befördert, sondern Biografien verlieren ihre Festigkeit - sie werden "sinnbildlich gesprochen flüssiger".
Nicht Konzentration auf die "Überflüssigen", ...
"Die Überflüssigen dokumentieren daher kein präzises Defizit einer Lebenslage, sondern ... soziale Vorgänge des Überflüssig-Machens." Und das ist auch der zentrale Satz von Harks Analyse.

Nicht um eine Phänomenologie der Überflüssigen sollte es der Soziologie gehen - wie etwa in der Beschreibung des berühmt-berüchtigten Nachbars, der den ganzen Tag fern sieht, apathisch in seiner Wohnung hockt und sich von Fast Food ernährt, bis ihm der hohe Blutdruck zu Gesichte steht.
... sondern auf die Vorgänge, die sie dazu machen
Diese Konzentration auf die Ausgeschlossenen, auf die "Überflüssigen" berge immer die Gefahr, dass man als Wissenschaftler zu dem Vorurteil beiträgt, wonach die Menschen "selbst schuld" seien an ihrem Schicksal.

Besser sei eine soziologische Diagnostik "jener sozialen Vorgänge, durch die Menschen ... überflüssig gemacht werden".

Diese Diagnostik müsste "dynamisch, vieldimensional und episodisch" konzipiert werden und von konkreten Gefahren ausgehen, mit denen sich Individuen auseinandersetzen - und dies reiche von Auseinandersetzungen mit staatlichen Behörden bis zur Mobilisierung von Hilfeleistungen durch Freunde und Verwandte.
Vorbild Bourdieu
Erst dabei, so Hark, könnte die Metapher der Überflüssigen eine Schlüsselrolle einnehmen. Konkrete Umsetzungen dieses Ansatzes hat sie bereits ausgemacht: Allerdings nicht im deutschen Sprachraum, sondern in Frankreich - bei Pierre Bourdieu und seinem 1997 erschienenen Buch "Das Elend der Welt".

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 15.7.05
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Über die Autorin des "Transit"-Textes
Sabine Hark forscht an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam, Professur für Frauenforschung.
->   Mehr über Sabine Hark (Uni Potsdam)
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Mehr zu dem Thema:
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->   Soziologen: Rettungsvorschläge für den Sozialstaat (12.10.04)
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->   Bourdieu: Soziologie als Überlebensprogramm (25.1.02)
 
 
 
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01.01.2010