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Vergessens-Pille: Mit Beta-Blockern gegen Traumata  
  Nach Terroranschlägen können auch unverletzte Opfer noch lange Zeit unter posttraumatischen Zuständen leiden. Eine Gruppe New Yorker Psychologen hat nun entdeckt, dass Beta-Blocker - ein bei Herz- oder Blutdruck-Problemen übliches Medikament - die Rückkehr der unliebsamen Erinnerungen zumindest kurzfristig aufhalten können.  
Aber auch kritische Stimmen werden laut: Sie warnen vor Missbrauch, etwa die Abgabe der "Vergessens-Pillen" an Soldaten, die während eines Krieges an Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung beteiligt waren.

Außerdem seien traumatische Schübe eine normale Reaktion des Körpers auf schreckliche Erlebnisse. Sie sollten nicht durch Medikamente unterdrückt werden.
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Die jüngsten Erkenntnisse zur Vergessen fördernden Wirkung von Beta-Blockern schildert Jim Giles unter dem Titel "Beta-blockers tackle memories of horror" in "Nature" (Band 436, S. 448f; Ausgabe vom 28.7.05).
->    "Nature"
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Verformbares Gedächtnis
Auf die Idee mit den Beta-Blockern kamen die Psychologen aus New York durch die Erkenntnis, dass das Gedächtnis erstaunlich flexibel ist. Erinnerungen sind nicht fix gespeichert, sondern können verloren gehen, modifiziert werden oder mit anderen Gedächtnisteilen zu neuen "Speicherinhalten" kombiniert werden.

Diese Flexibilität unseres Gedächtnisses hat eine neurologische Grundlage: Ständig werden neue Verschaltungen zwischen Neuronen geschaffen oder alte abgebaut.
->   Mit "flexiblen Proteinen" dem Gedächtnis auf der Spur (22.12.03)
Gefühle von Erinnerungen abtrennen
Wie die Forscher herausfanden, schaltet sich der Beta-Blocker Propranolol in jenen Prozess der Gedächtnisbildung ein, durch den sich Erinnerungen im Gehirn verfestigen.

In Stresssituationen schüttet der Körper Adrenalin und Noradrenalin aus, die die Beta-Rezeptoren aktivieren, wodurch die Emotionen besonders stark wahrgenommen werden. Propranolol unterbricht diesen Automatismus, die bewegenden Gefühle werden nicht oder deutlich abgeschwächt aus dem Gedächtnis abgerufen.
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Versuche an Ratten
Versuche an Ratten zeigten, dass mit dem Beta-Blocker auch konditioniertes Verhalten unterbrochen werden kann: Zwar lernten die Tiere einen bestimmten Ton fürchten, weil ihm immer ein leichter Stromschlag folgte. Nachdem ihnen Propranolol verabreicht wurde, "vergaßen" sie ihr Wissen aber wieder und verloren die Angst vor dem Ton.
->   Zum Original-Abstract in "Neuroscience"
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Propranolol für traumatisierte Menschen
Die New Yorker Psychologen erproben Propranolol gerade an Menschen, die Ergebnisse eines klinischen Versuchs sollen laut "Nature" im September veröffentlicht werden.

Als Patienten behandeln sie Menschen, die an einem "Posttraumatischen Belastungssyndrom" (PTBS) leiden.
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PTBS: Psychische und physische Erkrankung
Symptome dieser Erkrankung reichen von Schlafstörungen, Herzrasen und Nervosität bis hin zu zwanghaftem Erinnern an die traumatische Situation und in weiterer Folge emotionale Kälte.

PTBS geht oft einher mit Missbrauch von Medikamenten oder Drogen und einem Zerfall des sozialen Umfelds der betroffenen Person.
->   PTBS: Trauma mit weitreichenden Folgen (13.2.02)
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Bei beginnenden Symptomen Pille schlucken
Margret Altemus, Psychologin an der Cornell Universität, leitet die New Yorker Studie. Sie bittet ihre Patienten, jeden Mal, wenn sie die charakteristischen Symptome von PTBS heranziehen fühlen, eine Dosis Propranolol zu sich zu nehmen. Erste Versuche zeigen, dass die aufkeimende Panik unterdrückt werden konnte.

Altemus hält den neuen Ansatz vor allem für jene Patienten für geeignet, die durch eine herkömmliche, auf Verarbeitung des Erlebten abzielende Therapie nicht erreichbar sind, weil sie sich an bestimmte Vorfälle schlicht nicht erinnern wollen - Opfer sexuellen Missbrauchs etwa.
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PTBS nach Terroranschlägen
Forschungen zeigen, dass Terroranschläge eine stärkere Traumatisierung auslösen als andere schreckliche Vorfälle wie etwa Autounfälle. Israelische Psychologen untersuchten Überlebende von terroristischen Vorfällen und von schweren Unfällen. Rund 38 Prozent der Ersteren wiesen eine PTBS auf, jedoch nur knapp 19 Prozent der Unfallopfer.
->   Zum Abstract "PTSD Following Terrorist Attacks: A Prospective Evaluation" (.pdf)
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Leichtfertiger Umgang mit Krankheitsbild PTBS
Wie viele Menschen nach den jüngsten Terroranschlägen an PTBS leiden werden, lässt sich nicht seriös prognostizieren.

Viele Wissenschaftler kritisierten schon nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001, dass mit dem Krankheitsbild PTBS zu leichtfertig umgegangen werde.

Nicht jedes Unwohlsein beim Gedanken an den Vorfall sei eine Störung, PTBS-Patienten würden jahrelang unter schweren Beeinträchtigungen leiden.
Kritik von Fachkollegen
Und auch den Wunsch nach der "Wunderpille", mit der schreckliche Erlebnisse einfach von der Festplatte Gehirn gelöscht werden sollen, sehen Fachkollegen von Margret Altemus durchaus kritisch.

Erstens, so geben sie zu bedenken, ist PTBS eine durchaus normale Reaktion des Körpers, die man nicht einfach unterdrücken sollte.

Und zweitens fragen sie, wie man den Missbrauch einer solchen Substanz verhindern sollte: etwa wenn Soldaten, die an Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung beteiligt waren, vor störenden Erinnerungen "geschützt" werden sollen.
Laut Prognosen steigende Nachfrage
Altemus wehrt sich in "Nature" gegen die Vorwürfe. Beta-Blocker seien nur eine Möglichkeit, wie mit posttraumatischen Zuständen umgegangen werden kann.

Die Nachfrage nach einem solchen Medikament wird - wenn man den Terrorexperten Glauben schenkt - in den nächsten Jahren jedenfalls steigen.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 28.7.05
->   Cornell University
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->   Die Mathematik des globalen Terrors (11.12.05)
->   Antiterrorkampf vernachlässigt Ursachen für Gewalt (17.1.05)
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01.01.2010