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Neustart der Lissabon-Strategie bringt nichts Neues  
  Trotz umfangreicher Strategiepläne ist es Europa bisher nicht gelungen, die Wirtschaft spürbar anzukurbeln und einen Aufschwung einzuleiten. Im Frühjahr 2005 wurde deshalb ein Neustart jener Lissabon-Strategie beschlossen, die ursprünglich Europa sogar mit den USA hätte gleichziehen lassen. Der Wirtschaftswissenschaftler Heinz Handler untersucht beim Europäischen Forum Alpbach 2005 im August, warum die bisherigen Bemühungen fehlgeschlagen sind.  
Endlich ein Wachstumskurs für Europa?
Von Heinz Handler

Ein "Neustart" wurde versprochen, als die Staats- und Regierungschefs beim Frühjahrsgipfel im März 2005 über ihre "Lissabon-Strategie" räsonierten. Es war zugleich die Halbzeit jenes Unterfangens, das bis 2010 aus Europa den "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" machen sollte, der noch dazu dauerhaftes Wachstum, mehr und bessere Arbeitsplätze sowie einen größeren sozialen Zusammenhalt garantieren sollte.

Damit wurde Amerika aufs Korn genommen: In den USA hatte die "New-Economy"-Periode seit Mitte der 1990er Jahre zu einem Produktivitäts- und Wachstumsschub geführt, der den früheren Aufholprozess Europas stoppte.
Keine Wachstumsspuren ...
Das Ziel wurde verfehlt und ist verfehlt! Es wurde verfehlt, da die Lissabon-Strategie bisher noch keine Wachstumsspuren hinterlassen hat. Das Programm ist zwar gut, doch fühlt sich niemand für die Umsetzung verantwortlich.

Die zuständigen Politiker in den Mitgliedstaaten der EU haben Wichtigeres zu tun, als abstrakten Wachstumsvorstellungen der Gemeinschaft nachzuhängen, die von ihren Wählern nicht verstanden werden.
... und falsches Vorbild USA
Das Lissabon-Ziel ist verfehlt, weil es sich nur die USA zum Vorbild nimmt. Beim gegebenen Zeithorizont war es völlig unrealistisch, mit den USA in der Wirtschaftsdynamik, und schon gar im Einkommensniveau gleich ziehen zu wollen.

Dieses Ziel ist nicht nur verfehlt, sondern wohl auch unerwünscht, sofern damit Europa einfach zu einer Kopie des US-Wirtschaftssystems werden sollte. Hingegen spricht Vieles für eine Verwertung ausgewählter amerikanischer Erfahrungen zur Verbesserung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells.
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Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Heinz Handler vom Wirtschaftsforschungsinstitut nimmt beim Europäischen Forum Alpbach 2005 gemeinsam mit zahlreichen weiteren Experten am Seminar "Mobilising Europe's growth potential" (19.-24.8.2005) teil. science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Europäisches Forum Alpbach
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Muss Europa rascher wachsen?
Es geht also nicht um das Einholen der USA. Wohl aber geht es um die Be-schäftigungslage und den Wohlstand der europäischen Bevölkerung. Jede Wirtschaftspolitik zielt letztlich auf die schrittweise Verbesserung des Lebensniveaus aller Bürger und Bürgerinnen.

In manchen Ländern Europas ist die Arbeitslosigkeit unerträglich hoch, der ra-sche Strukturwandel und die schwache Konjunktur lassen sie auf Sicht noch weiter steigen. Um den Zustrom neuer Beschäftigungswilliger auf die Arbeitsmärkte zu absorbieren (ohne gleichzeitig das durchschnittliche Einkommensniveau zu senken), muss Europas Wirtschaft rascher wachsen als bisher.
Der Einfluss internationaler Faktoren
Wieso liegt das Wirtschaftswachstum in den USA seit den frühen 1990er Jahren fast ununterbrochen (ausgenommen im Terrorjahr 2001) über dem Wachstum in der EU? Vielleicht haben jene recht, die überwiegend Messfehler für den Unterschied verantwortlich machen.

Aber auch dann bleibt die Frage, warum Europa nicht ausreichend rasch wächst, um die Arbeitslosigkeit zu senken? Ist es der enorm gestiegene Ölpreis, dem die Strukturanpassungen in der Wirtschaft nachhinken?
Ölpreis oder Dollarkurs?
Aber den hohen Ölpreis muss auch Amerika verkraften - und hat dennoch eine vergleichsweise niedrige Arbeitslosigkeit. Oder ist es der hohe Dollarkurs des Euro, welcher der europäischen Exportwirtschaft zusetzt?

Dann bliebe zu erklären, wieso vor 2003 das europäische Wachstum nicht durch den damals schwachen Euro stimuliert wurde. Die internationalen Faktoren reichen offenbar nicht aus, die europäische Wachstumsschwäche zu erklären.
Anpassungsschwäche verursacht Wachstumsschwäche
Globalisierung und europäischer Binnenmarkt entsprechen der Wirtschaftsphilosophie des EG-Vertrages, der eine "offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" verwirklichen will.

In kaum einem EU-Mitgliedstaat sind aber die Gütermärkte - und mehr noch die Dienstleistungs- und die Arbeitsmärkte - schon so flexibel, dass sie Strukturänderungen rasch verarbeiten könnten.

Europa muss sich daher selbst an der Nase nehmen und seine Anpassungsschwächen mit Strukturreformen bekämpfen. Das Gegenargument, dass mit der Liberalisierung der Märkte nur noch mehr Arbeitslose produziert werden, stimmt bestenfalls kurzfristig. Leider ist die kurze Frist auch jene, die von der Mehrzahl der Politiker (und ihrer Wähler) gerade noch überblickt wird.
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Literaturtipps
Handler Heinz, Burger Christina (Hrsg.), "Competition and Competitive-ness in a New Economy", Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Wien, Juli 2002.

Handler Heinz (Hrsg.), "Structural Reforms in the Candidate Countries and the European Union", Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Wien, Juli 2003.
->   WIFO-Publikationen
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Mehr Nachfrage schaffen! Aber wie?
Aus dieser Sicht spricht manches dafür, die alte Konjunkturpolitik auszugraben und mit lockerer Geld- und Fiskalpolitik die Nachfrage der Konsumenten und Investoren anzuregen.

Schmerzliche Erfahrungen aus der Vergangenheit zeigen aber, dass dies bes-tenfalls als Initialzündung dienen kann (mit allen Problemen, zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zu zünden), die Wirtschaft damit aber nicht auf einen höheren Wachstumspfad zu hieven ist.
Langfristiger Abbau von Unsicherheiten
Jedenfalls nicht mit der oft geforderten Zinssenkung durch die Europäische Zentralbank. Und auch nicht mit mehr Staatsnachfrage auf Pump. Europa hat sich nicht zuletzt wegen schlechter Erfahrungen mit den Folgen hoher Inflation und einer hohen Staatsverschuldung für den monetären und fiskalischen Stabi-litätskurs entschieden.

Notwenig wäre (und das kann mit einer Einzelmaßnahme wie einer Zinssenkung nicht erreicht werden) eine konzertierte längerfristige Politik des Abbaus von Verunsicherungen. Ungelöst ist nämlich letztlich die Frage, wie die skeptische Erwartungshaltung der Bürger und der Unternehmen, die lieber zuwarten und sparen als konsumieren und investieren, überwunden werden kann.
Neustart verheißt bisher wenig Neues
Ein möglicher Ansatzpunkt hiezu wäre der Neustart der Lissabon-Agenda im Frühjahr 2005 gewesen. Die Europäische Kommission hat sich viel Mühe gegeben, die Versäumnisse der letzten Jahre aufzuarbeiten und die Schwachstellen in der bisherigen Strategie aufzuzeigen.

Es wurden Schwerpunkte gesetzt, die Koordinationsprozesse koordiniert, über den Neustart diskutiert. Abgesehen von dieser Kosmetik gibt es aber weder sichtbare neue Inhalte, noch neue Politiken und schon gar nicht ein neues Verständnis der nationalen Politiker mit Blick auf die Umsetzung der Strategie.

Diese Gelegenheit wurde versäumt! Das Wachstum bleibt weiterhin den Markt-kräften überlassen.

[5.8.05]
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Kurzlebenslauf
Heinz Handler, geboren 1941 in Eisenstadt, Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Wien (Dr. jur. 1967), postgraduales Studium der Ökonomie und Statistik am Institut für Höhere Studien in Wien, Habilitation für Wirtschaftspolitik und empirische Wirtschaftsforschung an der Technischen Universität Wien (1989).

Tätigkeit als Ökonom beim Internationalen Währungsfonds in Washington, D.C. (1973-76) und am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) von 1968-73 und von 1976-93, dort zuletzt als stellvertretender Leiter.

1993-2003 Sektionsleiter für Wirtschaftspolitik im Bundesministerium für Wirt-schaft und Arbeit, seither wiederum am WIFO. Lehrtätigkeit derzeit an der TU Wien und an der Universität Innsbruck. Mitglied mehrerer Aufsichtsräte sowie von 1994 bis 2004 Mitglied des Wirtschaftspolitischen Ausschusses der EU. Mehr als 150 Fachpublikationen.
->   Zum WIFO
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01.01.2010