News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 
Wie Gestalten im Gehirn entstehen  
  In den 1920er Jahren haben deutsche Psychologen die Lehre der Gestaltwahrnehmung entwickelt. Dabei versuchten sie unter anderem zu erklären, wie sich Figuren im Blickfeld von ihrem Hintergrund abheben. US-Forscher haben bei diesem Prozess nun gewissermaßen hinter die Kulissen geblickt. Sie fanden heraus, wo im Gehirn die Figur-Hintergrund-Unterscheidung stattfindet.  
Ein Team um Rüdiger von der Heydt vom Zanvyl Krieger Mind/Brain Institute der Johns Hopkins University entdeckte in der Sehrinde von Affen Zellen, die sowohl bei der Gestaltwahrnehmung als auch beim räumlichen Sehen eine Schlüsselrolle spielen.
...
Die Studie "Figure and Ground in the Visual Cortex: V2 Combines Stereoscopic Cues with Gestalt Rules" von Fangtu T. Qiu und Rüdiger von der Heydt erschien im Fachjournal "Neuron" (Band 47, S. 155-166; doi:10.1016/j.neuron.2005.05.028 ).
->   Zum Originalartikel
...
Die Rubin-Vase

Vase oder Gesichter? Wer kennt sie nicht, die nach dem dänischen Psychologen Edgar John Rubin benannte Kippfigur, die - je nach Sichtweise - unterschiedliche Dinge vor dem Auge des Betrachters auftauchen lässt.

Was geht eigentlich im Gehirn vor, wenn die weiße Vase plötzlich verschwindet und stattdessen zwei schwarze Köpfe in Profilansicht auftauchen?
Wahrnehmung von Gestalten
Wie bereits die Gestaltpsychologen um Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka erkannt haben, ist die Wahrnehmung keineswegs eine neutrale Abbildung der Dinge "da draußen". Vielmehr nimmt die Psyche eine aktive Gliederung und Ordnung der Umweltreize vor, bei der sich Striche zu Objekten und Töne zu Melodien - eben Gestalten - vereinigen.

Wertheimer und seine Kollegen entdeckten bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einige Prinzipien - etwa Geschlossenheit, Nähe und Ähnlichkeit -, die diesen Vorgängen zugrunde liegen. Wer oder was diese Prinzipien im Gehirn verarbeitet, blieb allerdings lange Zeit im Dunkeln.
->   Gestaltpsychologie - Wikipedia
Erste Spur: Zellen im visuellen Cortex
Erst 70 Jahre später fanden Forscher eine erste Spur. 1995 trainierte der US-amerikanische Neurowissenschaftler Victor Lamme Makkaken darauf, Figuren auf einem Bildschirm zu erkennen, die sich nur durch ihre Textur von der Umgebung unterschieden.

Er entdeckte daraufhin im primären visuellen Cortex der Affen Zellen, die ausschließlich dann aktiv waren, wenn die Figur an einem bestimmten Teil des Blickfelds platziert war. Lagen an dieser Stelle etwa nur Teile des Hintergrunds, blieben die Zellen hingegen stumm.

Lammes Folgerung: Die Neuronen codieren offenbar etwas, das mit der berühmten Figur-Hintergrund-Unterscheidung zu tun hat, über die sich bereits die Gestaltpsychologen den Kopf zerbrochen haben (Journal of Neuroscience 15, 1605).
Neuronen ordnen Konturen zu
Die Vermutung sollte sich bestätigen. Fünf Jahre später entdeckte ein Team um Rüdiger von der Heydt von der Johns Hopkins University ähnliche Zellen im sekundären visuellen Cortex (auch Areal V2 genant). Diesmal hatten die Neuronen offenbar mit der Darstellung von Objekt-Konturen zu tun.

Die Zuweisung von solchen Konturen ist zweifelsohne ein Schlüsselereignis bei der Figur-Hintergrund-Unterscheidung, wie man sich leicht am Beispiel der Rubin-Vase vor Augen führen kann. Je nachdem, ob man die Grenze zwischen Weiß und Schwarz dem Gefäß oder der Profilansicht zurechnet, tritt das eine oder das andere als Objekt in den Vordergrund.

Genau diese Entscheidung wird durch die Aktivität der betreffenden V2-Neuronen dargestellt, so der Schluss der US-Forscher in ihrer damaligen Studie (Journal of Neuroscience 20, 6594).

Bemerkenswert dabei: Obwohl die Zellen nur einen kleinen Ausschnitt des gesamten Blickfeldes "im Auge hatten", hing ihre Aktivität von globalen Eigenschaften - nämlich der räumlichen Ordnung - des Bildes ab.
Schnittstelle zwischen Räumlichkeit und Gestalt
Bild: Neuron
Nun haben von der Heydt den sekundären visuellen Cortex bei Rhesusaffen erneut unter die Lupe genommen. Dabei untersuchten sie u.a. die Frage, wie aus dem zweidimensionalen Netzhautbild eine räumliche Empfindung entsteht.

Normalerweise behilft sich das Gehirn anhand der leicht unterschiedlichen Bilder, die das stereoskopische Sehen erzeugt. Es gibt aber auch Fälle, in denen das nicht möglich ist. Ein Beispiel ist die Anordnung auf dem Bild rechts, die im Prinzip zwei gleichberechtigte Interpretationen zulässt.

Trotzdem sieht jeder Mensch ein helles Quadrat und kein Fenster in dunklem Rahmen. Der Grund dafür, so das Team um von der Heydt: Das Gestaltprinzip der Geschlossenheit gibt vor, was wir sehen, und genau dieser Vorgang lässt sich an der Aktivität der V2-Neuronen ablesen.

Wie die Forscher herausfanden, sind die selben Nervenzellen auch für die Verarbeitung stereoskopischer Informationen verantwortlich. Sie stellen offenbar eine Art Relaisstation im Gehirn dar, die Gestaltwahrnehmung und räumliches Sehen zusammenführt.

Robert Czepel, science.ORF.at, 11.8.05
->   Zanvyl Krieger Mind/Brain Institute
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010