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Wittgenstein-Symposion zu "Zeit und Geschichte"  
  "Was ist Zeit?"- Mit dieser Frage befasst sich nicht nur die Philosophie. Das Spektrum reicht von der Physik über die Sozialwissenschaften bis zu den Cultural Studies. Eine unüberschaubare Zahl von Publikationen ist über die Zeit erschienen, die unterschiedliche Perspektiven dieses Phänomens aufzeigen - Übereinstimmung gibt es keine.  
Es existiert keine einheitliche Zeit, wir leben in physikalischer, sozialer, geschichtlicher oder mythischer Zeit, aus der sich die individuelle Eigenzeit zusammensetzt.

So lautet der Grundtenor des 28. Internationalen Wittgenstein-Symposions in Kirchberg am Wechsel ("Zeit und Geschichte"), das am Wochenende zu Ende gegangen ist.
Intention der Veranstaltung
Mit der Zeit und ihrem geschichtlichen Ablauf befassten sich auch die Teilnehmer und Teilnehmerinnen des 28. Internationalen Symposiums in Kirchberg am Wechsel.

Der in Wien lehrende Philosoph Friedrich Stadler, der in Zusammenarbeit mit dem Institut Wiener Kreis und der Universität Wien das Symposion organisierte, erläutert die Grundintention der Veranstaltung:

"Es war beabsichtigt zu zeigen, dass Zeitbegriffe und Zeittheorien in verschiedenen Wissenschaften behandelt werden. Da gibt es Äquivokationen und Missverständnisse; mein Mitorganisator Michael Stöltzner von der Universität Bielefeld und ich versuchten, in Anspielung auf Stephen Hawkings Buch 'Eine kurze Geschichte der Zeit' im Gegenteil von einer langen Geschichte der Zeit gesprochen werden kann."
->   28. Wittgenstein-Symposion
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Ö1-Dimensionen zum Wittgenstein-Symposion
Die Ö1-Dimensionen widmen sich dem Thema "Zeit und Geschichte" des heurigen Wittgenstein-Symposions: Dienstag, 16. August 2005, 19.05 Uhr, Radio Österreich 1.
->   oe1.ORF.at
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Parmenides versus Heraklit
In der abendländischen Philosophie reicht die Analyse der Zeit bis zu den Vorsokratikern zurück. Bereits am Beginn stehen einander zwei Konzepte der Zeit gegenüber, die im Verlauf der Philosophiegeschichte immer wieder auftauchten.

Während Parmenides von einem unveränderlichen Sein ausgeht, ist für Heraklit die ständige Veränderung die Grundbestimmung von allem Seienden.
Wittgensteins Unterscheidung der Zeit
Für den Selbstdenker Ludwig Wittgenstein war die traditionelle philosophische Auseinandersetzung mit der Zeit ein Irrweg. Die Frage, was denn das Wesen der Zeit sei, betrachtete er als ein Scheinproblem, das es durch die Sprachanalyse aufzulösen galt.

Für ihn war der Zweck der Philosophie die logische Klärung von Gedanken. Er suchte keine spekulativen, philosophischen Sätze, sondern deren Klarheit.

Diese Intention verfolgte er sowohl im Frühwerk des "Tractatus logico-philosophicus" als auch im Spätwerk der "Philosophischen Untersuchungen". Grundsätzlich unterschied Wittgenstein zwischen der "Gedächtniszeit" und der "physikalischen Zeit" oder "Informationszeit".
"Gedächtniszeit"
Die Gedächtniszeit ist für das Frühwerk Wittgensteins charakteristisch, in dem er - so der Wittgensteinexperte P.S. Hacker - an einer "Vision der Kristallreinheit der logischen Form des Denkens, der Sprache und der Welt" arbeitete.

Der in Bielefeld lehrende Philosoph Joachim Schulte skizziert Wittgensteins Konzept der "Gedächtniszeit": "Gedächtniszeit ist die Zeit, die ausschlaggebend für die unmittelbare Erfahrung ist. In dieser Zeit, die Wittgenstein nicht als Dimension auffassen will, die zwar durch das Gedächtnis gebildet ist, aber die immer nur eine Gegenwart hat und von daher keine Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft - nur in dieser Zeit kann man wirklich sagen, hier kann ich etwas verifizieren, jetzt habe ich mein Erlebnis."
"Physikalische Zeit/Informationszeit"
In seinem Spätwerk der "Philosophischen Untersuchungen" ersetzte Wittgenstein das Konzept der "Gedächtniszeit", das sich nur auf das Individuum bezieht. Der Aspekt des Sozialen, des Kommunikativen wurde dabei nicht berücksichtigt. Das entsprach der solipsistischen Haltung Wittgensteins in seinem Frühwerk.

Im Spätwerk sprach er von der "Informationsszeit", die sich im öffentlichen Raum des alltäglichen Lebens ereignet. Der Austausch von Sprachspielen, der in diesem Raum stattfindet, strukturiert das Zeitempfinden des Einzelnen und öffnet ihm den Sinn für die Vielfalt des sozialen Lebens.
Soziale und geschichtliche Zeit
Das Phänomen der Zeit ist nicht nur ein abstraktes Problem, mit dem sich Philosophen und Physiker auseinandersetzen. Als soziale Zeit ist sie ein wesentlicher Teil des Zivilisationsprozesses, wie der Soziologe Norbert Elias in seinem Buch "Über die Zeit" nachweisen konnte.

Zeit bestimmt als "Zeit-Zwang" das Verhalten des Einzelnen in der Gesellschaft. Die sozial messbare Zeit bedarf noch einer wesentlichen Ergänzung, ohne die der von Elias angesprochene Zivilisationsprozess nicht verständlich wäre.

Es handelt sich dabei um die geschichtliche Dimension der Zeit, die von der in Konstanz lehrenden Anglistin Aleida Assmann thematisiert wurde.
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Aleida Assmann: "Zeit und Geschichte sind eng miteinander verbunden, weil historische Ereignisse in der Zeit nicht nur stattfinden, sondern sie strukturieren. Das heißt, wir erzählen die Ereignisse der Zeit, die auch in Vergessenheit geraten können.

Wir entfernen uns aber nicht nur von den Ereignissen in der Zeit, die in der Geschichte passiert sind und an die man sich erinnert. Hier interessiert mich das Wechselverhältnis von abgeschlossenen Zeitereignissen wie der Untergang von Karthago aber auch die Ereignisse, die in zwar die jüngere Generation wenig interessiert aber dennoch präsent sind."
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Ägyptische Zeitformen: Neher und Djet
Den in Heidelberg lehrenden Ägyptologen Jan Assmann interessiert am Geschichtsprozess speziell die kulturell konstruierte Zeit, die eng mit einer Gedächtniskultur verbunden ist. Assmann unterscheidet zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis, denen unterschiedliche kulturelle und soziale Funktionen zugeordnet werden.

Am Beispiel der ägyptischen Kultur skizziert er das Langzeitgedächtnis einer Kultur, das sich über rund 3.000 Jahre erstreckt. In der ägyptischen Kultur finden sich zwei Zeitformen, die für das Individuum unterschiedliche Bedeutungen haben:

"Das eine nennen die Ägypter 'Neher' das ist der Oberbegriff aller Zeiteinheiten, unabschließbar zu einer unendlichen Summe. Das ist eine Zeit, die ständig in Bewegung ist, weil ständig eine Stunde auf die andere, ein Tag auf den anderen folgt. Die andere Zeitform - 'Djet' - verbindet sich mit der Unwandelbarkeit. Das Symbol dafür ist der Stein, das verschwindet nicht mehr und geht ein in diese Dauerzeit."
Eine anachronistische Frage
Die Frage nach dem Wesen der Zeit, die vor allem die Philosophie gestellt hat, ist heute anachronistisch - so lautete der Grundtenor der Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Wittgenstein-Symposiums, in den auch Friedrich Stadler einstimmt.

Der rätselhafte Charakter der Zeit bleibt bestehen, den bereits Augustinus in seinem Buch "Bekenntnisse" angesprochen hatte. "Wenn niemand mich danach fragt", so schrieb er, "weiß ich es; wenn ich es einem Fragenden erklären muss, weiß ich es nicht."

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft, 16.8.05
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Literaturtipps
Joachim Schulte: Wittgenstein. Eine Einführung, Reclam Verlag
Jan Assmann: Ägypten. Eine Sinngeschichte, Carl Hanser Verlag
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01.01.2010