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Religiosität: "Halbwertszeit" von einer Generation  
  Hunderttausende Jugendliche aus aller Welt treffen sich dieser Tage in Köln, um beim Weltjugendtag gemeinsam mit Papst Benedikt XVI. zu feiern. Ein Zeichen für die Zukunft der Religion in Europa? Nein, sagen britische Forscher, die die "Vererbung" des Glaubens innerhalb von Familien untersucht haben. Ihnen zufolge verfügt Religiosität nur noch über eine "Halbwertszeit" von einer Generation.  
Das ist zumindest der Schluss, den der Sozialwissenschaftler David Voas von der Universität Manchester aus einer Studie für die britische Bevölkerung zieht.

Wie die Uni in einer Aussendung mitteilte, beträgt die Wahrscheinlichkeit religiöser Eltern ihren Glauben an die Kinder weiterzugeben nur mehr 50 Prozent.
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Die Studie "Religion in Britain: Neither Believing nor Belonging" ist im Journal "Sociology" (Bd. 39, S. 11; DOI: 10.1177/0038038505048998) erschienen.
->   Abstract in "Sociology"
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Glaube schwindet schneller als vermutet
Indizien für eine sinkende Religiosität in der Bevölkerung gibt es mehrere: die Zahl der Kirchenaustritte, der Gottesdienstbesucher, der kirchlich Getrauten - aber auch die Menge der Bewerber für das Priesteramt. Alle diese Zahlen sinken in Europa seit Jahren - daran konnte auch die intensive Anteilnahme am Lebensende von Johannes Paul II. durch Millionen Menschen nichts ändern.

Voas und sein Kollege Alasdair Crockett von der Universität Essex haben nun die These untersucht, ob sich hinter diesen Zahlen nicht doch eine relativ robuste und stabile Religiosität verbirgt, die von derlei Äußerlichkeiten unberührt bleibt: Bleibt sie nicht, ist der klare Schluss ihrer Studie.

Im Gegenteil. Der Gottesglaube schwindet ihnen zufolge noch schneller als dies Kennzahlen wie z.B. Kirchenaustritte vermuten lassen.
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Beispiel Österreich
Die Zahl der Kirchenaustritte hat sich in den vergangenen 25 Jahren verdoppelt. 1981 wurden knapp über 26.000 Austritte registriert, im Jahr 2004 ist erstmals die Marke von 50.000 überschritten worden.
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Eltern: Wichtigster "Religiositätsfaktor"
Für die vom "Institute for Social and Economic Research" durchgeführte Studie verwendeten Voas und Crockett die Daten von zwei wichtigen britischen Sozialstatistiken.

Der wichtigste Einzelfaktor, der über die Religiosität eines Menschen entscheidet, ist ihr zufolge die Einstellung der Eltern. Das steht durchaus im Widerspruch zu biologischen Erklärungsmodellen, die den Glauben durch so etwas wie ein "Gottes-Gen" vererbt sehen wollen.
->   Ulrich Körtner: Gibt es ein Gott-Gen? (23.12.04)
50-50-Chance für gläubige Eltern
Laut Voas und Crockett ergibt sich eine "religiöse Halbwertzeit" von einer Generation. Mit anderen Worten: Zwei nichtreligiöse Elternteile geben diese Einstellung "erfolgreich" an ihre Kinder weiter.

Bei zwei religiösen Elternteilen besteht eine Chance von 50 Prozent, dass ihnen die Sprösslinge auf dem Weg des Glaubens folgen. Bei nur einem religiösen Elternteil sinkt diese Chance auf 25 Prozent.
Gilt auch für andere Religionen
Ein Trend, der nicht nur auf die christliche Mehrheitsreligion in Großbritannien zutrifft, sondern auch auf die Religionen der Minderheiten: Bei ihnen geht er lediglich von einem insgesamt höheren Niveau aus.

Einen Faktor, der dieser allgemeinen Tendenz entgegentritt, gibt es freilich: Religiöse Eltern bekommen im Schnitt mehr Kinder als nichtreligiöse.
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Beispiel Deutschland
Trotz gegenwärtiger Jubelstimmung um Papst Benedikt XVI.: Die katholische Kirche Deutschlands verlor seit 1990 insgesamt 2,1 Millionen Mitglieder. Der Anteil der Katholiken an der deutschen Gesamtbevölkerung macht noch 31,7 Prozent aus und ist in etwa gleich hoch wie der der Protestanten. Die Zahl der Gottesdienstbesucher sank seit 1990 um 2,2 Millionen auf knapp vier Millionen. 2003 ließen sich 43,7 Prozent aller Paare mit mindestens einem katholischen Partner weniger kirchlich trauen, als es 1990 der Fall war.
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Meinungsunterschiede innerhalb der Konfessionen
Neben diesen quantitativen Veränderungen der Religion in modernen Gesellschaften hat Voas auch qualitative Einstellungen der Gläubigen untersucht. Ein heraus stechender Parameter ist dabei die Ansicht zum Thema Homosexualität. Zwar stimmt es, schreibt Voas, dass eine immer größere Anzahl gläubiger Menschen keinen Anstoß mehr daran nimmt.

Gleichzeitig zeigt sich aber auch eine Verschärfung der Meinungsunterschiede. Jüngere und weibliche Gläubige tendieren eher zu liberalen Ansichten, ältere und männliche eher zu konservativen - auch innerhalb der gleichen Glaubensgemeinschaften, betont Voas.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 17.8.05
->   David Voas, Universität Manchester
->   Institute for Social and Economic Research
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   "Brights": Neue Aufklärer gegen Irrationalität (1.12.04)
->   Ulrich Körtner: Megatrend Religion - oder Gottesvergessenheit? II (3.2.04)
->   Ulrich Körtner: Megatrend Religion - oder Gottesvergessenheit? I (1.2.04)
 
 
 
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01.01.2010