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Psychologische Grundlagen der Ökonomie  
  Illusionen über Geld können auch die Geldpolitik beeinflussen. In der ökonomischen Theorie dominiert dagegen die Annahme der vollständigen Rationalität. Experimente geben Aufschluss, unter welchen Bedingungen Geldillusion für Geldpolitik eine Rolle spielt.  
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Europäische Wissenschaftstage Steyr
"Geld, Glück und Ungeduld" ist das Thema der Europäischen Wissenschaftstage Steyr 2001 von 2. bis 5. Juli 2001, die sich mit den sozialen und psychologischen Grundlagen des Wirtschaftslebens befassen werden.

In Kooperation mit den Wissenschaftstagen Steyr und der Neuen Zürcher Zeitung bringt "science.orf.at" in gekürzter Form einen Originalbeitrag von Jean-Robert Tyran, der als Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen unterrichtet.
->   Europäische Wissenschaftstage Steyr
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Geldillusion und Geldpolitik
Ein Originalbeitrag von Jean-Robert Tyran

Geldillusion liegt vor, wenn Menschen in ihren wirtschaftlichen Entscheidungen von rein nominalen Grössen beeinflusst werden. Als Beispiel für das Vorliegen von Geldillusion wird oft angeführt, dass sich Arbeitnehmer weniger gegen Reallohnsenkungen zur Wehr setzen, wenn diese mit Nominallohnerhöhungen einhergehen.
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Annahmen über Geldillusion
Bis Ende der sechziger Jahre war unter Makroökonomen die Annahme, Menschen unterlägen der Geldillusion, weit verbreitet. Man stützte sich dabei auf die Intuition so bedeutender Wissenschafter wie John Maynard Keynes oder Irving Fisher, die konjunkturelle Phänomene unter Bezugnahme auf Geldillusion erklärten. Harte Evidenz, die diese Annahme gestützt hätte, lag jedoch nicht vor.
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Bruch im Diskurs
In den frühen siebziger Jahren ergab sich ein scharfer Bruch im makroökonomischen Diskurs. Wirtschaftlichen Akteuren Geldillusion zu unterstellen, galt plötzlich als völlig unwissenschaftlich.
"Vollständige Rationalität"
In den siebziger Jahren setzte sich die Ansicht durch, dass makroökonomische Phänomene ausschliesslich unter Bezugnahme auf die Annahme vollständiger Rationalität zu erklären seien.

Dies bedeutet, dass man jedem Akteur individuell Rationalität unterstellt und darüber hinaus annimmt, dass alle wissen, dass alle rational sind («common knowledge of rationality»).
Tabuisierung
Dementsprechend wurde nicht nur angenommen, dass niemand der Geldillusion unterliegt, sondern auch, dass dies allgemein bekannt ist. Diese Kehrtwende bezüglich der Annahmen vollzog sich, obschon auch für die Rationalitätsannahme keine harte Evidenz vorlag.

Die sich daraus ergebende «Revolution der rationalen Erwartungen» führte praktisch zur völligen Tabuisierung von Geldillusion als Gegenstand akademischer Forschung.
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Befragungsstudien
Dies begann sich erst mit einer 1997 prominent publizierten Befragungsstudie der beiden Wirtschaftspsychologen Eldar Shafir und Amos Tversky sowie des MIT-Ökonomen Peter Diamond zu ändern.

Die Studie kommt zum Schluss, dass Geldillusion ein weit verbreitetes Phänomen ist. Demnach unterliegen nicht nur Arbeitnehmer der Geldillusion. Vielmehr können Entscheidungen in praktisch allen Bereichen des Wirtschaftslebens von rein nominalen Grössen beeinflusst werden.

Diese Studie vermochte orthodoxe Ökonomen aber nicht von der Bedeutung der Geldillusion zu überzeugen.
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Experimente
In einer an der Universität Zürich durchgeführten Experimentalstudie wurden die Effekte von Geldillusion untersucht.

In wirtschaftswissenschaftlichen Experimenten können die Teilnehmer in Abhängigkeit von ihrem Verhalten Einkommen erzielen und sind daher ökonomischen Anreizen ausgesetzt.
Verringerung der Geldmenge
Die Aufgabe der Teilnehmenden bestand darin, gewissermassen in der Rolle von Firmen, wiederholt nominale Preise zu setzen. Dabei konnten die Preise jederzeit und kostenlos variiert werden. Die Geldmenge war im Experiment zunächst fix vorgegeben.

Zu einem bestimmten Zeitpunkt wurden die Teilnehmenden darüber informiert, dass nun die Geldmenge reduziert werde.
Langsame Anpassung
Hätten alle Teilnehmenden ihre nominalen Preise augenblicklich angepasst, hätten alle Firmen gleich viel verdient wie vor dem Geldmengenschock. Im Experiment konnte man aber beobachten, dass die Preise sich nach einer Geldmengenkontraktion nur sehr langsam anpassten, womit die restriktive Geldpolitik zu grossen Wohlfahrtsverlusten führte.
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Asymmetrische Effekte
In weiteren Experimenten wurde die Ursache für diese langsame Anpassung der nominalen Preise studiert. Dabei zeigte sich, dass ungleichgewichtige Erwartungen der Schlüssel zum Verständnis sind. Die Preissetzung ist häufig durch «strategische Komplementarität» gekennzeichnet. Darunter versteht man den Umstand, dass eine Firma einen Anreiz besitzt, die Preise zu senken, wenn die anderen Firmen ihre Preise senken (und umgekehrt).

Firmen haben somit einen Anreiz, «der Masse zu folgen». Wenn ein Unternehmer also erwartet, dass andere Firmen ihre Preise auf Grund von Geldillusion nicht anpassen werden, hat er einen Anreiz, seinen Preis ebenfalls nicht anzupassen. Für eine träge Anpassung der Preise ist es daher nicht nötig, dass viele Akteure tatsächlich der Geldillusion unterliegen. Es genügt vielmehr bereits der Glaube an weit verbreitete Geldillusion.
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Herdenverhalten
Ungleichgewichtige Erwartungen und ein sich daraus ergebendes «Herdenverhalten» scheinen auch für Finanzmärkte von grosser Bedeutung zu sein.

So kann es für einen Investor rational sein, eine Aktie zu kaufen, die er selbst für überbewertet hält, wenn er erwartet, dass andere Investoren weiterhin kaufen werden und damit die Kurse in die Höhe treiben.
Übertragung der Ergebnisse
Selbstverständlich ist bei der Übertragung dieser Ergebnisse auf die praktische Geldpolitik Vorsicht geboten. Schliesslich ist das Entscheidungsumfeld einer Zentralbank sehr viel komplexer als dasjenige im Experiment.

Unter diesem Vorbehalt ergeben sich dennoch einige Folgerungen für die Geldpolitik:
Folgerungen für die Geldpolitik
Erstens sollten heftige Geldmengenkontraktionen vermieden werden, da der dabei entstehende Wohlfahrtsverlust sehr gross sein kann.

Zweitens könnte bei niedrigen Inflationsraten eine geringfügig zu expansive Geldpolitik mit weitaus geringeren Kosten verbunden sein als eine geringfügig zu restriktive Geldpolitik.

Drittens dürfte die Hoffnung vergebens sein, durch expansive Geldpolitik dauerhafte Beschäftigungsgewinne zu erzielen.
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Jean-Robert Tyran in der Neuen Zurcher Zeitung.
->   NZZ
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Mehr dazu in science.orf.at:
->   Geld, Glück und Ungeduld
 
 
 
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01.01.2010