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Essstörungen haben auch immunologische Ursachen  
  Essstörungen könnten neben psychischen auch immunologische Ursachen haben. Schwedische Forscher haben herausgefunden, dass Bulimie- und Anorexie-Patienten Antikörper gegen eine körpereigene Substanz bilden, die an der neuronalen Regelung des Hungergefühls beteiligt ist.  
Konkret weisen solche Personen einen erhöhten Wert von Autoantikörpern gegen das Hormon Alpha-MSH auf. Das könnte wiederum zur Entgleisung des Kontrollsystems für Appetit und Körpergewicht geführt haben, wie ein Team um Serguei O. Fetissov vom Schwedischen Karolinska Institutet vermutet.
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Die Studie "Autoantibodies against neuropeptides are associated with psychological traits in eating disorders" von Serguei O. Fetissov et al. erscheint auf der Website des Fachjournals "Proceedings of the National Academy of Sciences" (doi: 10.1073_pnas.0507204102).
->   Zur Studie (sobald online)
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Esstörungen werden häufiger
Etwa 200.000 Österreicherinnen leiden zumindest einmal im Laufe ihres Lebens an einer Essstörung. Aber auch Männer erkranken immer häufiger an Bulimie (Ess-Brech-Sucht) oder Anorexia nervosa (Magersucht).

Und: Die Patienten werden immer jünger, wie eine im Juli dieses Jahres veröffentlichte Studie der Universität Halle zeigt. Demnach weisen bereits mehr als sechs Prozent der 15 bis 16 Jahre alten Schüler bulimische Verhaltens- und Denkweisen auf.
->   Essstörung - Wikipedia
Psychische und körperliche Ursachen
Eine Ursache dafür dürfte u.a. eine große Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und dem medial vermittelten Idealtypus des menschlichen Körpers sein.

Auf physischer Ebene gibt es wiederum Hinweise, dass Anorexie- und Bulimie-Patienten eine geringere Konzentration gewisser Neuropeptide in ihrem Zellplasma und ihrer Rückenmarksflüssigkeit aufweisen. Was die Ursachen dafür sind, lag jedoch lange Zeit im Dunkeln.
Anorektiker bilden Antikörper gegen Hormon
Ein erster Hinweis zur Lösung dieses Problems wurde im Jahr 2002 veröffentlicht. Damals berichtete ein Team um Serguei O. Fetissov vom Schwedischen Karolinska Institutet, dass Essstörungen offenbar von einer Änderung im Immunsystem begleitet sind (PNAS 99, 17155).

Konkret wiesen Anorexie- und Bulimie-Patienten einen erhöhten Wert von Antikörpern auf, die gegen einen körpereigenen Botenstoff, das so genannte Melanozyten-stimulierende Hormon (Alpha-MSH), gerichtet sind.
->   Melanocyte-stimulating hormone - Wikipedia
Immun- und Nervensystem kommunizieren
Das passt durchaus gut zu einem Befund, der letztes Jahr von Lawrence Steinman vom Beckman Center for Molecular Medicine, Stanford, ausgesprochen wurde: Nerven- und Immunsystem sind keineswegs getrennt funktionierende Systeme, sondern treten permanent in Wechselwirkung.

So regulieren beispielsweise viele neuroendokrine Hormone die Ausschüttung von Immunmolekülen, etwa den so genannten Cytokinen. Umgekehrt ist das Immunsystem an der Ausbildung von Nervenverbindungen beteiligt. Daher vermutet man, dass viele neurologische und psychische Störungen etwas mit immunologischen Faktoren zu tun haben könnten (Nature Immunology 5, 575).
Zusammenhang statistisch nachgewiesen
Der Fund der schwedischen Forscher ist aber noch aus einem ganz konkreten Grund interessant. Das Peptid Alpha-MSH spielt eine Schlüsselrolle bei der Regelung von Hungerempfinden und ist daher ganz direkt mit der Nahungsaufnahme verbunden.

Wie Fetissov und Kollegen in ihrer aktuellen Studie berichten, lässt sich bei Anorexie- und Bulimie-Patienten eine statistische Korrelation zwischen Antikörper-Konzentration und psychischen Auffälligkeiten nachweisen:

Dazu gehören etwa der Zwang, dünn sein zu wollen, ein Hang zum Asketismus, Misstrauen gegenüber anderen Personen und eine verminderte Kontrolle innerer Impulse - alles Eigenschaften, die im so genannten "Eating Disorder Inventory" als typische Hinweise für Essstörungen gewertet werden.
->   Eating Disorder Inventory
Autoantikörper nicht per se schädlich
Allerdings ist die Sache nicht so einfach, wie man vermuten könnte: Denn auch bei Personen ohne Essstörungen sind Auto-Antikörper gegen MSH nachzuweisen.

Wie Fetissov und Kollegen in ihrer aktuellen Studie hinweisen, dürften diese Antikörper ursprünglich deswegen gebildet worden sein, weil ihr Ziel, das Peptid MSH, Übereinstimmungen mit Proteinabschnitten von verbreiteten Erregern - wie z.B. Helicobacter oder das Influenza-A-Virus - aufweist.

Offenbar hat aber der menschliche Körper darauf reagiert und die Antikörper in weiterer Folge für die Regulation von Immunmolekülen dienstbar gemacht. Nur dürfte bei den Anorexie- und Bulimie-Patienten irgendetwas aus dem Ruder gelaufen sein.
Kontrollsystem im Hirn gestört
Denkbar wäre etwa, dass sich die Durchlässigkeit der Blut-Hirnschranke der Patienten durch Hunger, Infektionen oder Stress erhöht hat und so ungebetene Autoantikörper ins Gehirn eingedrungen sind.

Das könnte wiederum zur Störung des so genannten Melanocortin-Systems geführt haben, zu dem auch das MSH gehört, so die Vermutung der schwedischen Forscher. Zumindest ist bekannt, dass die Melanocortine nicht nur die Nahrungsaufnahme regeln, sondern auch Einfluss auf motiviertes Verhalten und affektbelandene Zustände haben.

Robert Czepel, science.ORF.at, 27.9.05
->   Karolinska Institutet
->   Ö1-Radiodoktor: Essstörungen
 
 
 
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01.01.2010