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Französische Besatzung: Erst Feinde, dann Freunde  
  Die Besatzungszeit in Tirol und Vorarlberg 1945-1955 war von einer unglaublichen Entwicklung geprägt. Aus der historischen Feindschaft gegenüber den Franzosen - seit Andreas Hofer 1809 - wurde eine nachhaltige Freundschaft.  
Verantwortlich dafür war das geschickte Agieren des kommandierenden Generals Marie Emile Bethouart, der einen konsequenten Versöhnungskurs praktizierte.

Neuere Forschungen zeigen jetzt, wie knapp die Charmeoffensive vor dem Scheitern stand.
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TV-Tipp
Die schwierigen Beziehungen zwischen Österreichern und Franzosen behandelt der Film des Autors "Autriche Mon Amour", der am Dienstag um 20.15 in ORF 2 zu sehen ist.
->   Mehr dazu in tv.ORF.at
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Friedensvision für Österreich
Bild: Stadtarchiv Innsbruck
Marie Emile Bethouart
(Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck)
"Ici pays ami" - hier ist befreundetes Land - das sind die ersten prägenden Eindrücke der französischen Besatzungszeit. Mit dieser Aufschrift werden schon im April 1945 Schilder am Straßenrand versehen, um die französischen Soldaten, die gerade von den letzten Kämpfen gegen Nazi-Deutschland kommen, auf ihre Mission in Österreich einzustimmen.

Bereits vor Kriegsende hat der französische Oberbefehlshaber Marie Emile Bethouart, ein enger Vertrauter von Charles de Gaulle, eine Friedensvision entwickelt. Von Paris aus kaum mit Vorgaben ausgestattet, will er die Identität der Österreicher stärken. Österreich soll als selbstbewusster Staat aus dem Einfluss von Deutschland gelöst werden.

Bethouart sieht die französische Militärverwaltung nicht als strenge bestrafende Besatzung eines Nazilandes, sondern als freundschaftliche, politische Entwicklungshilfe. Österreich soll anders behandelt werden als Deutschland
Gemeinsame Geschichte
 
Bild: ORF

Franzosenparade mit Lieutenant Gaillard

Der Hintergrund dieser Vision: Bereits nach dem 1. Weltkrieg gibt es in Frankreich Überlegungen, eine strategische Partnerschaft zu suchen, um Österreich als eigenständigen Staat lebensfähig zu machen und einen Anschluss an Deutschland zu verhindern. Die alten, aber nicht verwirklichten Ideen werden von Bethouart und seinen Beratern 1945 wieder belebt und anhand historischer Gemeinsamkeiten propagiert.

Klaus Eisterer, Experte für die Französische Besatzung in Westösterreich: "Immer wenn Österreich zu sehr in den deutschen Einflussbereich geraten ist - 1866 Königgrätz, 1938 Anschluss - ist es auch früher oder später Frankreich schlecht gegangen. Und umgekehrt, wenn Frankreich geschwächt war, ging es auch Österreich schlecht. Das war ein Bild, mit denen man die Österreicher besser an die französischen Interessen anbinden konnte."
Keine Amour, ...
So schlüssig die Theorie, die Praxis des Jahres 1945 sieht nicht so harmonisch aus: Einerseits ist in der französischen Armee die Besatzung durch die Wehrmacht - und damit auch durch Österreicher - nicht vergessen.

Viele wollen Revanche üben und tun dies im Rahmen der angeordneten Entnazifizierung. Andererseits werden die Franzosen als die Erzfeinde überhaupt betrachtet. Viele Tiroler und Vorarlberger wollen gar nicht die Freunde der Franzosen sein.
... sondern schwierige Affäre
 
Bild: ORF

Marokkaner verstärkten das Bild der fremden Besatzungsmacht.

Diese gegenseitige Feindseligkeit von 1945 wird heute gerne vergessen, der Historiker Thomas Angerer hat sie anhand von Dokumenten der "mission francaise" wieder thematisiert. Als Motiv sieht Angerer "die menschliche Neigung, die Geschichte von ihrem Ausgang her zu betrachten!"

Angerer konnte auch die Zweifel jener Persönlichkeit belegen, die bislang als Ikone der französisch-österreichischen Versöhnung galt: General Bethouart. Sogar er war über die franzosenfeindliche Haltung in Österreich so aufgebracht, dass er in einer Ansprache ein Abgehen vom Versöhnungskurs androhte.
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Versteckspiel um eine Fahne
Die Ambivalenz der Situation zeigt sich ganz plastisch an einer Begebenheit in der kleinen Ortschaft Inzing im Inntal. Inzing hat eine Besonderheit aufzuweisen. Die lokale Schützenkompanie hat 1809 eine französische Standarte erbeutete, die sich noch 1945 im Ort befindet.

Obwohl Versöhnungskurs angeordnet ist, versucht eine französische Kompanie zehn Jahre lang die Fahne wieder zurückzubekommen, mit Hausdurchsuchungen, Einschüchterungen, aber auch mit Bestechungen - die Männer werden mit Alkohol, die Kinder mit Schokolade gesprächig gemacht.

Für die Inzinger ist aber die Feindschaft alt genug, dass sie alle Anstrengungen unternehmen um die Fahne so zu verstecken. Über Jahre gibt es ein richtiges Versteckspiel, so dass es den Franzosen nicht gelingt, sie zu finden. Erst 1955, nach Abzug, wird die Fahne wieder hervorgeholt.
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Öffentliche Ehrung von Andreas Hofer
Bild: Stadtarchiv Innsbruck
Schützenkommandant Triendl und Bethouard (Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck)
Tiroler Schützen, die Bewahrer des Mythos 1809, sind es aber letztendlich, die mit Bethouarts Freundschaft schließen und damit das Franzosenbild in Österreich nachhaltig positiv verändern.

Bethouarts Verdienst bei den Schützen: Er erlaubt ihnen sich zu bewaffnen - ein wichtiger symbolischer Akt. Er unterstützt offen alle politischen Bemühungen, damit Südtirol bei Österreich bleibt - auch als die Zentralregierungen in Paris und Wien sich schon abgefunden haben, dass Südtirol zu Italien kommt.

Der Höhepunkt aber: 1950 ehrt er durch eine Kranzniederlegung am Berg Isel den Volkshelden Andreas Hofer. Das sichert ihm den Respekt des ganzen Landes.
Respekt des ganzen Landes
Sein Mitarbeiter Serge Bataille erinnert sich: "Als General Bethouart bei seiner Verabschiedung über den Rennweg in Innsbruck durch ein Spalier von Menschen zog, sind Frauen mit ihren Kinder aus der Menge heraus zu ihm gelaufen und haben ihn gebeten, ihre Kinder zu segnen! Die Verehrung war wirklich aufrichtig!"
Ambivalente Bilanz
Die persönliche Beziehung hat kaum politische Konsequenzen, so der Historiker Thomas Angerer: "Fast hat es den Anschein, als wäre Österreich bei der Verteilung der Freundlichkeiten zu früh drangekommen und hätte Frankreich dann mit der Bundesrepublik etwas Ähnliches, nur viel weiter gehendes verwirklicht, als es mit Österreich begonnen hatte".

Mit Deutschland, dem 1945 größeren Feindbild, verbindet Frankreich seitdem eine politische und wirtschaftliche Partnerschaft, mit Österreich bleiben nur die gemeinsamen Erinnerungen an General Bethouart und die Schützen - ein ambivalentes Erbe der Besatzungszeit.

Tom Matzek, ORF-Wissenschaft Fernsehen, 18.10.05
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Gedenkjahr 2005 in science.ORF.at
In loser Folge erscheinen in science.ORF.at redaktionelle Texte und Gastbeiträge zu dem Schwerpunkt "Gedenkjahr 2005".
->   Gedenkjahr 2005 in science.ORF.at
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->   2005.ORF.at
->   Literatur zu den österreichisch-französischen Beziehungen
->   Stadtarchiv Innsbruck
 
 
 
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01.01.2010