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Erinnerungskultur - jenseits des Nationalen?  
  Der Begriff des "Gedächtnisses" hat die kulturwissenschaftliche Diskussion über Geschichte in den vergangenen 20 Jahren geprägt. Die "Erinnerungsorte" dieses Gedächtnisses waren dabei zumeist national fixiert. Anlässlich einer Tagung in Wien geht der Historiker Moritz Csaky in einem Gastbeitrag der Frage nach, wie eine Erinnerungskultur aussehen könnte, die jenseits des Nationalen liegt.  
Translokales, transnationales Gedächtnis
Von Moritz Csaky

Ist "Gedächtnis" zum Synonym für eine neue Form der Nationalgeschichte geworden? Das von Pierre Nora initiierte Forschungsprogramm "Lieux de memoire" legt dies nahe.

Das Kompendium der französischen Gedächtnisorte erwies sich als erfolgreiches Unternehmen - mit Beispielwirkung für andere Länder, u.a. Italien, Deutschland, wo im Jahr 2001 die "Deutschen Erinnerungsorte" in drei Bänden erschienen und jüngst auch Österreich: Vor wenigen Tagen wurden die ebenfalls dreibändigen "Memoria Austriae" präsentiert.
Erinnerungsorte: Zurück zur nationalen Historiographie?
Diesen Unternehmen ist gemeinsam, dass sie eine Zusammenstellung jener "Orte" intendieren, die im kollektiven Gedächtnis verankert und für die jeweilige Nationsbildung von konstitutiver Bedeutung sind.

Die Rekonstruktion solcher Gedächtnisorte bleibt freilich nicht nur von historischem Interesse, sondern ist auch für die Gegenwart von Relevanz. Die nationale Dimension, die den "Lieux de memoire" ursprünglich zugrunde liegt - Nora spricht von einem "Inventar des 'Hauses Frankreich'", von einer "Rückkehr zur nationalen Historiographie vermittels der Analyse all dessen, was die Eigentümlichkeiten eines Landes ausmacht", wird zwar von den deutschen und österreichischen Folgeprojekten zurückgewiesen.

Aber selbst die dezidierte Distanzierung von einer nationalen Programmatik kann nicht verhindern, dass Gedächtnisorte damit eindeutig national verortet werden, was etwa eine klare Trennung zwischen französischen, italienischen, deutschen oder österreichischen Gedächtnisorten zur Folge hat.
Erinnerung ist dynamisch, nicht stabil
Diese offen intendierte oder auch nur implizite nationale Rahmung, die sich mit dem Konzept der Gedächtnisorte verbindet, kritisch zu hinterfragen ist das Ziel der Konferenz "Translokales, transnationales Gedächtnis?".

Denn die individuelle und kollektive erinnernde Aneignung von Gedächtnisorten ist ein dynamischer Prozess, der eine stabile Kanonisierung von Gedächtnisorten für eine Gesellschaft, für eine nationale Identität, nicht zulässt.

Gedächtnis wurde bzw. wird für die Konstruktion nationaler Identität immer wieder vereinnahmt, jedoch: Die Elemente bzw. Codes, aus denen sich ein Gedächtnisort zusammensetzt, können für unterschiedlicher Gesellschaften (Nationen) von unterschiedlicher konstitutiver Bedeutung sein.
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Konferenz in Wien
Die Konferenz "Translokales, transnationales Gedächtnis?" findet von 3. bis 5. November an der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien statt.
->   Mehr über die Konferenz
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Bedeutungen wandeln sich
Zudem sind die gesellschaftlichen Sinnstiftungen der Entstehungszeit nicht stabil in die Medien des Gedächtnisses eingeschrieben, sondern Veränderungen unterworfen: Die ursprüngliche Aussage eines Denkmals kann so in Vergessenheit geraten, an seine Stelle können andere Bedeutungen treten.

Damit wird die eindeutige und Zeit übergreifende nationale Zuschreibung von Gedächtnis und Erinnerung obsolet.
Rekonstruktion und Dekonstruktion nötig
Für die Beschäftigung mit Gedächtnisorten hat das zur Folge, dass der methodische Zugang nicht allein in der (historischen) Rekonstruktion von Gedächtnisorten und deren nationaler Festlegung bestehen kann, sondern vielmehr, dass deren Dekonstruktion ein wichtiges Ziel der Forschungsarbeit sein muss.

Das entspricht nicht nur den Theorieansätzen des gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurses über Gedächtnis und Erinnerung, es ermöglicht zugleich, die bis heute vorherrschende nationale Perspektive, ein Erbe des 19. Jahrhunderts, zu überwinden.
Frage der transnationalen Relevanz von Gedächtnis
Lassen sich Gedächtnis und Erinnerung, kollektive und individuelle Identitäten nicht eindeutig oder vornehmlich in eine nationale Perspektive einordnen, so stellt sich die Frage sowohl nach der Mehrdeutigkeit als auch nach der transnationalen Relevanz von Gedächtnis.

Dies wird besonders in multiethnischen bzw. -kulturellen Regionen wie Zentraleuropa deutlich, die nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart von kultureller Differenz geprägt ist.
Grenzbereiche besonders interessant
Versteht man unter Kultur das Ensemble von Elementen, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal kommunizieren - versteht man also unter Kultur einen Kommunikationsraum, ist Zentraleuropa von zahlreichen differenten Kommunikationsräumen gekennzeichnet, die sich nicht nur konkurrenzieren, sondern zum Teil ineinander übergehen.

Gerade solche "Grenzbereiche", die auch die urbanen Milieus dieser Region prägen, sind für kulturwissenschaftliche Analysen von besonderem Interesse, sind doch gerade an solchen Schnittstellen komplexe Prozesse von Inklusion und Exklusion, von Integration und Grenzziehung zu einem "Anderen" nachweisbar.
Mehrfachidentitäten und Verunsicherung
Solche Prozesse führen dazu, dass sich nicht nur ein translokaler bzw. transnationaler, d.h. übergreifender, entgrenzter Kommunikationsraum ausbildet, in welchem die gleichen Zeichen, Codes und Symbole verwendet und verstanden werden, eine gemeinsame, nonverbale "Sprache" präsent ist, sondern auch dazu, dass die Krisen- und Konfliktpotenziale in der Herausbildung von Fragen von Identität und Gedächtnis freigelegt bzw. verstärkt werden.

Gedächtnis und Erinnerung sind folglich nicht nur lokal und national, sondern zugleich auch in einem entgrenzten, "globalen" Kommunikationsraum verortet. Identitätsprozesse finden nicht nur in einem abgeschlossenen, sondern zugleich in übergreifenden, hybriden Kommunikationsräumen statt, was sowohl Mehrfachidentitäten oder die Multipolarität von Identität als auch Verunsicherungen und Identitätskrisen zur Folge haben kann.
Zentraleuropa als Paradigma
Zentraleuropa erscheint so als ein Paradigma, das nicht nur von regionaler Bedeutung ist. Vielmehr gewinnen aus einer solchen Perspektive auch die aktuell diskutierten Fragen nach einem europäischen Gedächtnis, nach europäischen "Werten", nach europäischen Identitäten eine neue Dimension.

Dieser Forschungsansatz, der auch die Leitlinie für die konkrete Erforschung kultureller Prozesse in Zentraleuropa im Rahmen der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bildet, versteht sich daher als ein innovativer Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Analyse gesamteuropäischer Prozesse, aber auch jener kulturellen Dynamik, die in einer Zeit verstärkter Vernetzungen und Mobilitäten von weltweiter Relevanz ist.

[31.10.05]
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Über den Autor
Moritz Csaky ist Obmann der Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der ÖAW und Professor der Allgemeinen Geschichte der Neuzeit und Österreichischen Geschichte an der Universität Graz.
->   Mehr über Moritz Csaky (ÖAW)
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01.01.2010