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Giorgio Agamben: Das Politische im 21. Jahrhundert  
  Der italienische Philosoph Giorgio Agamben nimmt nach dem Tod von Jacques Derrida die "pole position" in der Postmoderne ein. Er gilt heute als "Zitierautorität", die sich speziell mit dem Stellenwert des Politischen befasst. In seinen Arbeiten verbindet er tagespolitische Kommentare mit umfassenden philosophischen Analysen. Ein Symposions-Bericht.  
Dichterphilosoph
Agamben versteht sich als "Dichterphilosoph", er verabscheut die begriffliche Terminologie der akademischen Philosophie. Als Literaturwissenschaftler verfügt er über umfangreiche literarische Kenntnisse. Wichtig sind für ihn so unterschiedliche Autoren wie Walter Benjamin, Martin Heidegger, Hannah Arendt, Franz Kafka oder Guy Debord.
Biopolitik als neues Paradigma
Im Mittelpunkt eines Symposions in Düsseldorf stand Agambens Auffassung der Biopolitik, die er unter dem Einfluss von Michel Foucault entfaltet hat. Seine Schriften kreisen um eine politische und anthropologische Theorie der Leiblichkeit. Er spricht vom "biologischen Nullwert des Menschen"; das "nackte Subjekt" wird zum eigentlichen Subjekt der Moderne.
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Mit der Veranstaltung "Benjamin und Agamben - Symposium über das Politische im 21. Jahrhundert" beschäftigt sich auch die Sendung Ö1-Dimensionen. Sie bringt am 23. Jänner 2006 einen Bericht über das Symposion.
->   Programm des Symposions (pdf)
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"Bios und zoe"
Von Aristoteles übernimmt Agamben die Unterscheidung von bios und zoe, die beide das menschliche Leben bezeichnen. Zoe - so Agamben im Gespräch - meint das kreatürliche Leben, während bios das von sozialen Regeln kodierte Leben umfasst.

Agamben betont diese Unterscheidung zwischen einem politischen und biologischen Körper, der die abendländische Philosophietradition bestimmt.

Agambens Vorwurf gegen eine traditionelle Auffassung der Politik besteht darin, dass sich die politischen Herrscher dieser Trennung bedienen. Im Rechtsstaat zählt nur das mit Rechten ausgestattete Subjekt, während das nackte Subjekt als "vogelfrei" erklärt wird.
Ausnahmezustand
Agamben geht noch einen Schritt weiter: Er wirft vor allem den Vereinigten Staaten vor, im Nahmen des Rechtstaats einen "Ausnahmezustand" ausgerufen zu haben, der, obwohl er den Rechtsstaat legitimieren soll, diesen sukzessive auflöst.

Während dem politischen Körper staatsbürgerliche Rechte eingeräumt wurden, die ihm ein humanes Leben ermöglichten, wurde der Rechtlose auf sein "nacktes Leben" reduziert.

Diese Reduktion zeigt sich besonders deutlich bei den Insassen von Konzentrationslagern, sie tauchen aber auch in der Gegenwart auf, wie das Beispiel des Lagers Guantanamo Bay zeigt. Für Agamben ist das Lager das heimliche und schreckliche Paradigma der Moderne.
Ausnahmezustand als Regelfall
Agamben betont im Gespräch, dass er den "Ausnahmezustand" nicht als einen temporären Prozess betrachtet, sondern allmählich als Regelfall anzusehen ist. Den Ausnahmezustand fasst Agamben - ähnlich wie Walter Benjamin - als eine Form der Souveränität, die sich auf allen Ebenen durchgesetzt hat.

Als Hauptschuldigen dieser Entwicklung sieht Agamben die Regierung von George W. Bush, der als Souverän, als Imperator agiert. Präsident Bush bricht das Völkerrecht - so Agamben - und "schafft eine Lage, in welcher der Notfall zur Regel wird und in der die Unterscheidung zwischen Frieden und Krieg sich als unmöglich erweist".
Was tun?
Wie ist nun mit dieser politischen Situation im 21. Jahrhundert umzugehen? Michel Foucault und Walter Benjamin, der auf die drohende Inhaftierung durch die Nationalsozialisten mit Selbstmord antwortete, haben Agamben zu folgender Überlegung angeregt:

"Ich akzeptiere Foucaults Analyse der modernen Politik als Biopolitik: Gegenüber der traditionellen Politik wurde in der Moderne das Leben und seine Domestizierung die Hauptbühne politischer Machtausübung. Das heißt natürlich auch, dass die Kehrseite einer solchen Biopolitik eine Thanatos- oder Todespolitik ist. Wenn ich aber von Biopolitik als Katastrophe spreche, dann meine ich keine Apokalypse. Wie Benjamin sagte, die Katastrophe ist immer die Gegenwart. (...) Die einzige Möglichkeit, die wir haben, die Wirklichkeit zu erfassen, ist, sie als das Ende zu denken. Das ist auch ein Gedanke von Benjamin."
Interpreten des Endspiels - Verweis auf das Offene
Agamben und Benjamin sehen sich in gewisser Form als Interpreten einer "Todespolitik", die auf einen Endzustand oder einen Messianismus verweist. Als zweitbeste Möglichkeit sieht Agamben auf die Sphäre des Offenen - Heideggers "Lichtung".

Diese nicht genauer definierte Bestimmung sollte die Spaltung in ein politisches und "nacktes Subjekt" aufheben. Agamben geht es um das Offene des menschlichen Lebens. Eine Ahnung dieses Offenen als Zeugnis für das "nackte Leben" vermittelt die Dichtung in einer Passage: "Ein schönes Gesicht ist vielleicht der einzige Ort, wo wahrhaft Stille ist."

Nikolaus Halmer, Ö1-Dimensionen, 28.11.05
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Literaturhinweis
Giorgio Agamben: "Homo sacer", "Das Offene" "Profanisierung" sind bei Suhrkamp erschienen.
Empfehlenswert: Eva Geulen, Giorgio Agamben. Zur Einführung, Junius Verlag.
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->   Giorgio Agamben - Wikipedia
->   Giorgio Agamben - European Graduate School
 
 
 
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01.01.2010