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Hilfsbereitschaft stärker als angenommen  
  Es ist vielen aus der Praxis bekannt: Bei gefährlichen Situationen schauen die meisten Menschen zu, statt zu helfen. "Verantwortungsdiffusion" nennt das die Sozialpsychologie. Deutsche Forscher stellen der Hilfsbereitschaft der Menschen nun ein besseres Zeugnis aus: Je gefährlicher eine Situation ist, umso eher wird ihnen zufolge geholfen.  
Das ist der Schluss einer Reihe von Versuchen einer Forschergruppe um Peter Fischer von der Ludwig-Maximilian-Universität in München.

Ihre Studie steht in der Tradition der großen Experimente von John Darley und Bibb Latane in den späten 1960er Jahren, die neben dem Milgram-Experiment zu den bekanntesten der Sozialpsychologie zählen.
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Der Artikel "The unresponsive bystander: Are bystanders more responsive in dangerous emergencies?" ist im "European Journal of Social Psychology" (EJSP; Bd. 35. S. 1-12; Ausgabe vom 5.12.05) erschienen.
->   Abstract im EJSP
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Grausamer Mord als Auslöser von Studien
Auslöser für die Studien von Darley und Latane war 1964 ein besonders grausamer Mord in New York. Kitty Genovese, eine junge Frau wurde in der Nacht in einem Hinterhof ihres Wohnblocks überfallen und erstochen.

Über eine halbe Stunde lang beobachteten 38 Nachbarn, wie sie der Mörder mehrfach attackierte und schließlich tötete. Niemand half ihr oder wollte zumindest die Polizei verständigen.

Als die Presse darüber berichtete, ging ein Sturm der Empörung durch die USA. Strafen wurden verlangt für die Nachbarn, die zusahen, aber nicht halfen.
Untersuchung des Bystander-Effekts
Den Sozialpsychologen Darley und Latane ging es um etwas Anderes. Sie wollten die Motive erforschen, die hinter dem so genannten "Bystander-Effekt" stehen. In einer Reihe von Experimenten gingen sie diesem Phänomen des "Wegschauens in der Gruppe" nach.

Eines davon: Probanden saßen - alleine, mit einem Freund, mit einem Co-Studienleiter bzw. mit einem Fremden - in einem Raum, der von einem Nebenraum durch einen Vorhang getrennt war.

Der Testleiter, der sie in den Raum geführt hatte, verschwand hinter dem Vorhang und schaltete einen Kassettenrekorder ein. Zu hören waren die Geräusche eines simulierten Sturzes und Schmerzensschreie.
->   Mehr über den Bystander-Effekt (Fernuni Hagen)
Anwesenheit anderer hält von Hilfe ab ...
Die Reaktion der Studienteilnehmer: Während 70 Prozent der Einzel-Probanden und jener in Begleitung von Freunden hinter den Vorhang sahen und helfen wollten, waren es nur 40 Prozent bei jenen in fremder Gesellschaft und gar nur sieben Prozent bei den Co-Studienleitern.

Die Tatunwilligen gaben danach an, dass sie nicht glaubten, dass es sich um "etwas Ernstes" gehandelt habe und dass sie den Studienleiter "nicht in Verlegenheit bringen" wollten.
... so lautet die Lehrbuchmeinung
Ein Phänomen, das sich bei allen vergleichbaren Studien wiederholt: Die Teilnehmer glauben von sich aus nicht, dass sie durch die Anwesenheit anderer in ihren Reaktionen beeinflusst werden.

Offensichtlich ist dies aber sehr wohl der Fall - fremde Menschen, zumal in Gruppen fördern offensichtlich eine "pluralistische Ignoranz". Sozialpsychologen haben dafür auch ein hübsches Vokabel parat: Verantwortungsdiffusion.

Wer überzeugt ist, dass auch andere helfen könnten, schränkt das eigene Engagement drastisch ein - und zwar besonders in gefährlichen oder lebensgefährlichen Situationen, so die Lehrbuchmeinung.
Neuer Test mit unterschiedlichen Bedrohungsniveaus
Dass das nicht unbedingt so sein muss, haben nun Peter Fischer von der Ludwig-Maximilian-Universität in München und sein Team festgestellt. Sie haben mit 86 Probanden, 54 davon Frauen, folgenden Versuch durchgeführt: Sie sollten eine Situation zwischen einem Mann und einer Frau, die sich vermeintlich gerade zum ersten Mal trafen (in Wahrheit aber Schauspieler waren), beurteilen.

Innerhalb weniger Minuten wurde der Mann gewalttätig, und die Frage war, wie die Probanden darauf reagieren würden.

Um das Ganze genauer beurteilen zu können, wurden verschiedene "Bedrohungs- bzw. Gefahrenniveaus" inszeniert - etwa durch das Größenverhältnis der verschiedenen männlichen und weiblichen Schauspieler. In einigen Situationen war zudem eine vierte, unbeteiligte Person anwesend.
Größere Bedrohung führt eher zu Hilfe
Das Resultat der Studien: In wenig gefährlichen Situationen griff die Hälfte jener Beobachter ein und half, die alleine waren. Sobald ein "Bystander" dabei war, waren es nur mehr sechs Prozent.

In Situationen mit starker Bedrohung kam es aber zu anderen Resultaten als bei den klassischen Experimenten der Sozialpsychologie: 44 Prozent der Einzelbeobachter halfen dem Opfer, aber auch immerhin 40 Prozent derer, die in Begleitung eines Fremden waren.

Der klassische Bystander-Effekt ergab sich also nur bei geringen Gefahren. Und das stimmt den Studienautor Peter Fischer hoffnungsfroh: "Die gute Nachricht besteht darin, dass Menschen in echten Schwierigkeiten eine gute Chance auf Hilfe haben, auch wenn mehr als ein Bystander präsent ist."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 5.12.05
->   Mehr über John Darley (Princeton)
->   Viele sehen zu - niemand hilft (Uni Bochum)
->   Uni München
 
 
 
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01.01.2010