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30. Geburtstag: Rituale rund um eine Altersschwelle  
  Zwischen Freude und dem Gefühl des Älterwerdens schwanken viele Menschen vor dem 30. Geburtstag. Christian Marchetti von der Universität Tübingen hat sich "dem Dreißiger" kulturwissenschaftlich genähert.  
Er erklärt in seiner Abschlussarbeit "Dreißig werden. Ethnographische Erkundungen an einer Altersschwelle", welche Bedeutung die Menschen dieser Altersschwelle beimessen und wie 30-Jährige mit ihrem Leben "im neuen Jahrzehnt" umgehen.
30. Geburtstag im popkulturellen Umfeld sehr populär
Mehrere Testpersonen hatten sich bereit erklärt, den Kulturwissenschaftler auf ihre Geburtstagsfeiern einzuladen, ihre persönlichen Erlebnisse mitzuteilen, Fragebögen auszufüllen und Bilder über ihr bisheriges und zukünftiges Leben zu zeichnen. Marchetti hat ausschließlich Männer in seine Untersuchung einbezogen.

Aber warum ausgerechnet der 30. Geburtstag? "Der 30. Geburtstag ist im popkulturellen Bereich sehr populär, das zeigen Bücher wie 'Herr Lehmann' oder 'Generation Golf'", sagt Marchetti. "Der 30. Geburtstag wird als eine bedeutsame Schwelle dargestellt, an der man sich mit seiner eigenen Biografie auseinandersetzen muss und an der häufig der Wunsch entsteht, dem Leben von nun an einen Sinn zu geben."
Untersuchungen des Ritualcharakters von Feiern
Schon während seines Studiums untersuchte der Kulturwissenschaftler den "Ritualcharakter" des Feierns. Als Ritual bezeichnet er "gemeinschaftlich vollzogenes, sinnvolles und Sinn erzeugendes Handeln". Das bedeutet, dass es bei Geburtstagsfeierlichkeiten nicht nur darum geht, das bisher Erreichte des Jubilars in Szene zu setzen. Vielmehr können verschiedene Aspekte der sich wandelnden Rolle des Geburtstagskindes beleuchtet werden.

So beobachtete Marchetti beispielsweise, wie beim 50. Geburtstag eines Mannes nicht allein das ausgelassene Feiern im Vordergrund stand, sondern vielmehr die Demonstration des bisherigen und künftigen beruflichen wie sozialen Erfolgs. Der Sechzigste einer Hausfrau hingegen diente der festlichen Lobpreisung ihrer Großmutterschaft und schrieb sie so auf diese Rolle fest.
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Rituelle Züge des Dreißigers
Auch der 30. Geburtstag trägt in den meisten Fällen rituelle Züge. So verbringt der Jubilar häufig viel Zeit damit, einen passenden Ort für die Feierlichkeiten zu finden, zu planen, Einladungen zu gestalten und Vorbereitungen zu treffen.

Und auch die Gäste warten nicht selten mit musikalischen oder witzigen Darbietungen auf, in denen sie ihr Bild des Gefeierten darstellen.
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Inszenierungen des Alltags
Dem Kulturwissenschaftler zufolge sorgen solche Riten nicht nur für Vergnügen oder Abwechslung, sie dienen gleichzeitig der Bewältigung des Alltags. Im Geburtstagsfest vereinen sich feierliche, geregelte und geplante Abläufe mit festlichem Überschwang. So wird einerseits ein Ideal des Alltags inszeniert und diesem - sonst eher routiniert ablaufenden - Alltag ein Sinn gegeben.

Andererseits, so Marchetti, "kann man das Fest auch als temporäres Entrinnen aus der Zivilisation ansehen, als ein Überbleibsel der 'primitiven Orgie'". Der Geburtstag gliedert den Einzelnen so in den gesellschaftlichen Wertehorizont ein und stärkt zugleich seine Individualität.
30. Geburtstag: Symbol für neue gesellschaftliche Rolle
Der Kulturwissenschaftler erklärt, der 30. Geburtstag werde oft als "Übergangsritus" inszeniert, als Übergang in einen neuen Lebensabschnitt. Dies kann aber eigentlich nur dann stimmen, wenn der Jubilar auch tatsächlich in eine neue Phase übertritt, eine neue gesellschaftliche Rolle einnimmt oder sich geografisch verändert.

Der Dreißiger wird von vielen Betroffenen als der endgültige Übergang ins Erwachsenenleben gesehen. Problematisch kann es werden, wenn mit diesem empfundenen Übergang keine tatsächliche Veränderung einhergeht.
Soziale Unterschiede und Bedeutung des Geburtstags
Je nach sozialer Stellung zeigen sich hier auch Unterschiede im Umgang mit dem 30. Geburtstag: Ein Arbeiter oder Handwerker etwa, der in diesem Alter schon Familie hat und seit Jahren berufstätig ist, erlebt den Dreißigsten weniger als bedeutsamen Eintritt in eine neue Phase, sondern als schönen Anlass zu feiern oder auch als lästige Pflichtveranstaltung.

Bei vielen Akademikern hingegen ist der Lebensweg nach dem Studienabschluss häufig noch unklar. "Wer noch keine Arbeit oder wenigstens Kinder hat, empfindet den Dreißigsten als krisenhafter", erklärt Marchetti. "Viele 30-Jährige leben heutzutage ein jugendliches Leben, obwohl sie nicht mehr zur Generation der Jugendlichen zählen. Sie sind aber gleichzeitig auch nicht per se erwachsen."
Diskrepanz zwsichen tatsächlichem und sozialem Alter
"Das bedeutet, dass das tatsächliche Alter und das soziale Alter nicht mehr übereinstimmen. Solche empfundenen Defizite stauen sich am 30.Geburtstag an, und die rituelle Inszenierung eines Übergangs soll helfen diesen Druck abzubauen, indem Sinn erzeugt wird", so Marchetti.

Ein weiterer Grund für die Suche nach Halt im Ritual ist, dass der bisherige und auch der zukünftige Lebenslauf vieler End-Zwanziger in den seltensten Fällen gradlinig verläuft: "Das neue Biografie-Modell ist nicht mehr linear. Die Menschen müssen mit Brüchen in ihrer Biografie umgehen. Und die Lücken müssen sie selbst mit Sinn füllen."

[science.ORF.at/idw, 13.12.05]
 
 
 
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01.01.2010