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Medien sind (noch immer) nicht grenzenlos  
  Trotz vieler skeptischer Stimmen wird "Globalisierung" nach wie vor in vielen Bereichen als Ursache gesellschaftlicher Veränderung betrachtet. "Globalisierte Medien" hätten in dieser Logik dazu beigetragen, dass Nationalstaaten zunehmend ihre Kompetenzen verlieren.  
Der Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez von der Universität Erfurt hält von dem nicht viel - und Medien-Globalisierung eher für den "Wunschtraum des westlichen Medienkapitals". In Wahrheit spiele sich eine Regionalisierung der Medien ab, die ihre treibende Kraft noch immer in nationalstaatlichen Interessen hat und zu allerhand Paradoxien führt.

Weil dies "fast das Geheimwissen weniger eingeweihter Forscher" ist, weiht er uns in einem vor kurzem erschienenen Buch nun ein. Nachvollziehbar beweist er anhand von Auslandsberichterstattung, Satellitenfernsehen, Filmproduktion und Internet, dass "grenzenlose Medien" ein Mythos sind.
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Das Buch "Mythos Globalisierung. Warum die Medien nicht grenzenlos sind" von Kai Hafez ist 2005 im VS-Verlag erschienen.
->   Mehr über das Buch (VS-Verlag)
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Verständnis wie zu Zeiten von Columbus
Das Buch von Hafez stimmt über weite Teile einem Zitat der US-Kolumnistin Meg Greenfield zu. Anlässlich der islamischen Revolution 1978/79 schrieb sie in der Washington Post über das westliche Verständnis der Vorgänge:

"Intellektuell wie auch emotional befinden wir uns heute ungefähr dort, wo Kolumbus war, als er die Eingeborenen sah und glaubte, er wäre in Indien - nur dass wir heute in die andere Richtung segeln."
Europa weltweit am meisten medial beachtet
Ein gerütteltes Maß Verantwortung dafür trägt die Berichterstattung in den Medien. Das zu untermalen, versucht Hafez auf verschiedene Weise. Eine davon ist quantitativ und misst den Anteil der Inhalte, über die in verschiedenen Weltregionen berichtet wird.

Hafez zeigt, dass in allen Regionen der Welt zu allererst über die eigene berichtet wird. In einem weltweiten "Gesamt-Ranking" liegt Europa vor dem Nahen Osten und Nordamerika, Lateinamerika wird weltweit in der Auslandsberichterstattung am wenigsten beachtet.
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Beispiel Internet: Links meistens national
Das Internet ist das grenzüberschreitende Medium schlechthin. Laut Hafez verdoppelt sich derzeit alle 16 Monate der internationale Datenaustausch. Aber: Eine Studie hat gezeigt, dass in den USA 90 Prozent aller Links innerhalb der Landesgrenzen verbleiben, in Europa sind es rund 70 Prozent. Die meisten der anderen Links verweisen hier auf US-Websites - eher ein Zeichen für erfolgreiche transatlantische Beziehungen als für Globalisierung, so Hafez.
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Irak-Krieg: Medien prägen Öffentlichkeit
Besonderes Gewicht legt Hafez auf die Konflikte im Nahen Osten. Nicht erst seit dem 11. September gelte: "Der Westen und die arabische Welt pflegen hochgradig isolierte Mediendiskurse." Der Irakkrieg 2003 sei ein Musterbeispiel dafür, dass "die Auslandsberichterstattung nach wie vor nationalen Interessen untergeordnet ist".

In den USA habe sich die öffentliche Meinung geradezu schulbuchmäßig mit dem Kriegsverlauf entwickelt - davor und danach gab (und gibt) es durchaus Skeptiker. In der unmittelbaren Kampfphase kam es aber zu dem Phänomen des "Rallying-Round-the-Flag", d.h. zum Scharen um das vermeintlich allen gemeinsame Ziel des Kriegsgewinns.

Zahlreiche Studien haben regierungsfreundliche Neigungen einer großen Mehrheit der US-Massenmedien nachgewiesen.
Britische Medien neutraler als US-Medien
Die von Globalisierungstheoretikern angenommene Herausbildung "globaler Meinungen" gebe es also speziell in Kriegszeiten nicht, sondern eindeutig nationale. In den Worten von Hafez: "Die 'Story' des Krieges wird im Inland gemacht, und sie ist im Zweifel partikularistisch und kriegerisch wie eh und je."

Etwas besser kommen die britischen Medien bei der Analyse weg, obwohl Großbritannien damals wie heute am Irak-Krieg beteiligt ist. Dass sie im Vergleich zu US-Medien weit neutraler und kritischer berichteten, liege u.a. an der EU-Zugehörigkeit des Landes, deren unterschiedliche politische Einflüsse "in den Medien zur Geltung kamen und ... langsam den Primat der nationalen Fixierung relativieren".
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Mythos im Mythos: CNN-Effekt
Als einen "Mythos im Mythos" bezeichnet Hafez den "CNN-Effekt", also den Glauben an immer mehr grenzüberschreitende Kommunikation, die Mediatisierung der Politik und einer wachsend die Politik verändernden Wirkung der Medien, für die der US-Nachrichtensender beispielhaft seit dem Irakkrieg von 1991 steht.

Zunehmend mache sich Skepsis gegenüber dieser These breit: Zwar könnten Bilder mitunter zu einem Akteur der Politik werden, in der Regel gelte aber für die Außenpolitik nach wie vor, "dass die Medien folgen, nicht aber führen". Statt Politik zu verändern, komme den Medien vor allem die Rolle zu, für die "Herstellung und Aufrechterhaltung des politischen Konsenses an der 'Heimatfront' zu sorgen".
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Satelliten-TV führt nicht zu weniger Nationalismus
Hafez hält es auch für einen Mythos, dass direkt empfangbare Satelliten-Programme den Ethnozentrismus nationaler Berichterstattung durchbrechen könnten.

Im Zeitalter der Globalisierung komme es im Gegenteil zu einer paradoxen Zunahme von nationalen Programmen und zum Ausbau regionaler Medienimperien.

Im Sinne des Columbus-Zitats von oben sei daher auch eher ein "Lack of Communication" zu beklagen als der berühmte "Clash of Civilizations" von Samuel Huntington.
Kronzeuge UNESCO
Die Zahl der Zeugen für die Globalisierung der Welt sind scheinbar endlos, auch und besonders was die Rolle von TV und Internet dabei spielt.

Nur ein Beispiel: das "Forum Barcelona 2004" der UNESCO, das u.a. einen Zusammenhang herstellte zwischen dem Verfall staatlicher Grenzen und der Zunahme transnationaler Sender bzw. globaler Rezipienten.
->   UNESCO: "Global Television Versus State Television"
"Hotel-Globalisierung" von kleinen Eliten
Hafez hält das für blanke Theorie, da es bisher keine umfassende Untersuchung über die internationale Nutzung des Satellitenfernsehens gäbe. Aus regionalen Studien lasse sich aber der Schluss ziehen, dass grenzüberschreitende Fernsehnutzung nach wie vor die absolute Ausnahme sowie paradoxerweise begrenzt ist - begrenzt auf Sondersituationen (gemeinsame Sprachräume) und Sondergruppen, wie Einwanderer und globale Eliten.

Letztere sind vermutlich die echten globalen Medienkonsumenten und machen maximal fünf Prozent aller Menschen aus, eher weniger.

Hafez bezeichnet sie spöttisch als Bestandteil der "Hotel-Globalisierung", die als Reisende in den Hotels neben lokalen Programmen auch die internationalen im TV-Bouquet angeboten bekommen und nicht selten sehen müssen.
Überschreitung führt zu neuen Grenzen - im Kopf
Einwanderer wiederum sind ein Beispiel für eine weitere "Globalisierungs-Paradoxie". Sie, so Hafez, wurden immer wieder als Kronzeugen transnationaler Mediennutzung angeführt.

Dass dies nicht unbedingt zur Überwindung von "Grenzen im Kopf" beitragen muss, zeigt das Beispiel türkischer Einwanderer in Deutschland: Während sie noch in den 1980er Jahren auf deutsches Fernsehen angewiesen waren, steht ihnen nun eine Palette türkischer Satelliten-Programme zur Verfügung.

Und genau die können zu einer verstärkten "Ethnisierung" - sprich Bindung an das Herkunftsland - und Konstruktion einer virtuellen Gemeinschaft führen. Weil die Wirkung von globalisierten Medien laut Hafez aber "prinzipiell" ambivalent sind, kann auch das Gegenteil eintreten und multi- bzw. transkulturelle Entwicklungen gefördert werden.

Als Fazit ein Zitat von Hafez: "Medienproduktion und -nutzung ist eine sehr konservative kulturelle Kraft."

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 4.1.06
->   Kai Hafez, Universität Erfurt
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Osteuropa: "Experimentierfeld" der Globalisierung (18.10.02)
->   Der Mythos der Globalisierung (3.9.02)
 
 
 
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01.01.2010