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Deutsche Migrationsforscher gegen Islam-Bestseller  
  Am letzten Donnerstag hat die Wochenzeitung "Die Zeit" eine Petition, unterschrieben von mittlerweile rund 70 Migrationsforschern aus Deutschland, veröffentlicht: Sie prangern eine vorurteilsdominierte Integrationspolitik an, die sich zudem auf "unseriöse" Aussagen von Sachbuchautoren wie beispielsweise der Soziologin Necla Kelek, Autorin des Islam-Bestsellers "Die fremde Braut", beruft.  
Kelek hingegen wirft ihren wissenschaftlichen Kollegen "Realitätsferne" vor: Es seien gerade die Migrationsforscher, die seit 30 Jahren einer erfolgreichen Integrationspolitik im Wege gestanden hätten, wie die gebürtige Türkin in einer Entgegnung schreibt.

Ist hier nur Polemisierung und Erfolgsneid treibende Kraft hinter den Anschuldigungen, wie von Kelek behauptet, oder liegt ein Ernst zu nehmender Einwand der Wissenschaft vor, dass die Integrationspolitik - insbesondere im öffentlichen Diskurs - auf ein zu undifferenziertes Bild des Islam zurückgreift? Eine Frage, die sicherlich nicht pauschal zu beantworten ist, aber die Vorwürfe beider Seiten widerspiegelt.
Petition: Islambild zu wenig differenziert
Die Professorin für Interkulturelle Bildung der Universität Bremen, Yasemin Karakasoglu, verfasste gemeinsam mit dem Kölner Psychologen und freien Journalisten Mark Terkessidis einen offenen Brief, der mehr Wissenschaftlichkeit im öffentlichen Diskurs über Migration fordert.

Unter dem Titel "Gerechtigkeit für die Muslime" ("Die Zeit", 2. Februar 2006, Petition) beklagen die Verfasser sowie 69 Unterzeichner, dass sich die deutsche Integrationspolitik im Wesentlichen auf Vorurteile stütze.

Zudem sei der Inhalt der populären Sachbücher über den Islam sehr eindimensional - basierend auf "Erlebnisberichten und bittersten Anklagen gegen den Islam, der durchwegs als patriarchale und reaktionäre Religion betrachtet wird". Die Forscher beziehen sich dabei insbesondere auf Necla Keleks Buch "Die fremde Braut" (2005) zum Thema türkische Zwangsehen, doch verweisen auch auf die Bücher von der in Somalia geborenen Ayaan Hirsi Ali "Ich klage an" (2005) und der gebürtigen Türkin Seyran Ates "Große Reise ins Feuer" (2003).

Diese Literatur gäbe nur eine Stoßrichtung vor, nämlich dass es der "unverbesserlich rückschrittliche Islam" sei, der für die Zwangsheirat und andere Grausamkeiten verantwortlich wäre. Es würden so nur "billige Klischees" über den Islam verbreitet, obwohl es eine "quantitative und qualitativ-empirische Migrationsforschung" gäbe.
Unwissenschaftlichkeit für den Bucherfolg
Wie in dem offenen Brief dargelegt, hätte Kelek in ihrer eigenen Dissertation zum Thema "Islam im Alltag" (2002) festgestellt, "dass der Islam für junge Leute türkischer Herkunft vor allem ein Mittel der sozialen Identifikation sei - und weniger eine unhinterfragte religiöse Tradition." Dass es auch Spuren einer Modernisierung des Islam gäbe, eine Anpassung an die Lebensumstände des Westens und eine "Subjektivierung des Hergebrachten".

Die Forscher werfen Kelec vor, dass sie nun Gegenteiliges in ihrem Buch "Die fremde Braut" behauptet: "Offenbar wurden hier die eigenen - und zwar wissenschaftlich abgesicherten - Erkenntnisse mutwillig verborgen, um am Buchmarkt einen Erfolg zu landen und sich selbst als authentischen und vorgeblich wissenschaftlich legitimierten Ansprechpartner" zu positionieren.

Damit würde ein Zerrbild des Islam gezeichnet, welches aber gleichwohl in Deutschland von amtlicher Seite empfohlen, vom ehemaligen Innenminister Otto Schily gepriesen und mit dem Geschwister-Scholl-Preis 2005 ausgezeichnet worden sei. "Große Teile der Verwaltung, Ministerien und Medien", so heißt es in dem offenen Brief weiter, griffen "lieber auf unseriöse Pamphlete" zurück als auf differenzierte Forschung. So entstünden "ungenaue und vorurteilsbeladene Vorstellungen über den Islam und die Migranten".
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Die fremde Braut
Das 2005 erschienene Buch "Die fremde Braut" der deutsch-türkischen Soziologin und Migrationsforscherin Necla Kelek trug erheblich zur öffentlichen Diskussion über Zwangsehen und Integrationspolitik bei: In dem Buch beschreibt Kelek die türkische Heiratsmigration und die damit verbundenen Hindernisse einer Integration der Frauen. Das Buch wurde von prominenten Stimmen wie etwa der Frauenrechtlerin und Publizistin Alice Schweitzer ("ein Augen öffnendes Buch") gelobt sowie vom ehemaligen deutschen Innenminister Otto Schily im Wochenmagazin "Der Spiegel" positiv besprochen: "Necla Kelek leistet mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag, die Integrationsdebatte noch intensiver zu führen als bisher."
->   Mehr über das Buch beim Verlag KiWi Köln
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Nicht über den "Kamm des Patriachalen" scheren
Die rund 70 Migrationsforscher weisen darauf hin, dass es in der 'zweiten Generation' muslimischer Einwanderer sehr wohl eine komplizierte - oft sehr subjektive - Neuinterpretation gäbe, "die sowohl mit dem familiären Umfeld als auch mit den Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft interagiert". Diese sei nicht über den "Kamm des Patriarchalen und Rückschrittlichen zu scheren".

In dem Brief heißt es weiter, arrangierte Ehen seien unter anderem eine Folge von "Heiratsmärkten" zwischen Herkunfts- und Einwanderungsländern. Solche "Märkte" müsse man nicht begrüßen, aber man solle ihren Entstehungskontext begreifen: "Sie sind das Ergebnis der Abschottungspolitik Europas gegenüber geregelter Einwanderungspolitik. Wenn es keine transparenten Möglichkeiten zur Einwanderung gibt, nutzen die Auswanderungswilligen eben Schlupflöcher." Dies sei "ein politisches und kein moralisches Problem".
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Zwangsehen
Zwangsehen sind per Gesetz in Artikel 16 (2) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948) verboten: "Die Ehe darf nur auf Grund der freien und vollen Willenserklärung der zukünftigen Ehegatten geschlossen werden."
->   Terre des Femmes - Kampagne "Stoppt Zwangsheirat"
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->   Zwangsheirat bei Wikipedia
Kelek: Forscher hängen an Multikulturalismus-Ideologie
Die Soziologin Kelek kontert und wirft ihren Kritikern Wirklichkeitsferne vor: "Diese Migrationsforscher haben mit der sozialen Realität nichts zu tun", sagte die Autorin der dpa. "Sie arbeiten mit ihrer Multikulturalismus-Ideologie und überlassen die Integration dem Zufall."

In ihrer von den Medien veröffentlichten Entgegnung wirft sie den Migrationsforschern vor, "sie hätten in den vergangenen Jahrzehnten Zeit, Mittel und Gelegenheit gehabt, die Frage von Zwangsheirat, arrangierten Ehen, Ehrenmorden, Segregation und dem Islam zu untersuchen. Sie hätten die Frage stellen können, die ich gestellt habe. Sie haben es nicht getan, weil solche Fragen nicht in ihr ideologisches Konzept des Multikulturalismus passten. Damit haben sie aber auch das Tabu akzeptiert und das Leid anderer zugelassen."
Verhinderung von kriminellen Praktiken
Kelek könne das Selbstverständnis nicht verstehen, es ginge doch nicht nur darum, bestenfalls kriminelle Praktiken "in ihrem Entstehungskontext" erklären zu können, sondern auch um eine Verhinderung.

"Ich möchte mit meinen Arbeiten zur Integration beitragen und habe deshalb auch keine Probleme damit, mit dem Innenminister der Bundesrepublik, dem Bundesamt für Migration und anderen Stellen zusammenarbeiten." Zudem hätten die Forscher vor allem Angst um ihre Forschungsmittel, daher hätten sie zum Mittel des offenen Briefs gegriffen.

Wurde der Disput in den letzten Tagen relativ offensiv über die deutschen Medien ausgetragen, so scheint er doch auf deutsche Grenzen beschränkt zu sein. Zumindest haben die von science.ORF.at kontaktierten Migrationsforscher in Österreich nach eigener Auskunft die Diskussion nur am Rande mitverfolgt und bisher auch nur einiges über das Buch Keleks "Die fremde Braut" gehört - es aber nicht gelesen.

Lena Yadlapalli, science.ORF.at/APA/dpa, 7.2.06
->   "Die Zeit" - Keleks Entgegnung
->   Berichte in den Feullitons - Perlentaucher 3.2.06
->   Spiegel Online
->   Deutsches Bundesministerium des Innern - Zuwanderung
 
 
 
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01.01.2010