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Streit um Zugang zu deutschem Holocaust-Archiv  
  Mehr als 47 Millionen Dokumente mit Hinweisen auf 17 Millionen Opfern der Nazis verwaltet der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes (ITS) in Hessen. Fremden blieb der Einblick in die Akten bisher verwehrt.  
Um den Zugang zu den Akten voller Häftlingslisten, Arbeitskarten und Sterbeurkunden entspannte sich deshalb eine heftige internationale Kontroverse. Vor allem die USA pochen in Deutschland darauf auf höchster politischer Ebene.
Rechtlicher Rahmen fehlt
"Wir sperren uns nicht gegen eine Öffnung des Archivs für die historische Forschung", sagt ITS-Sprecherin Maria Raabe.

Dazu fehle aber bisher der rechtliche Rahmen. Auftrag des Suchdienstes sei seit 1955 nur das Sammeln, Ordnen, Aufbewahren und Auswerten der Dokumente.
Datenschutzrechte sind zu beachten
Wenn Forscher einen Zugriff erhalten sollten, könne dies nur mit Zustimmung der Elf-Staaten-Kommission geschehen, die die Arbeit des Suchdienstes überwacht.

Werde das Archiv geöffnet, müssten die Datenschutzrechte der Betroffenen beachtet werden, die in Europa strenger als in den USA seien.

Viele Dokumente enthielten heikle Angaben zur Privatsphäre, etwa über Krankheiten oder Homosexualität. "Es gibt Sachen, die man nicht zeigen kann", betont Raabe.
Archivare fordern Einblick
"Wir wollen einen selbstständigen Einblick in die Akten", sagt die Archivarin der Gedenkstätte des Konzentrationslagers (KZ) Buchenwald, Sabine Stein. "Wir haben nie Zugang erhalten."

Der Suchdienst verfüge über 90 Prozent der Originalakten zu Buchenwald. "Viele Dinge bleiben für uns ungeklärt", schildert Stein.
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Archiv zu Opfern der Nazizeit
Der ITS wurde im Zweiten Weltkrieg geschaffen, um Vermisste zu suchen. Zudem sollte er Unterlagen über Insassen von Arbeits- und Konzentrationslagern sammeln und auswerten. 1946 siedelte sich die Organisation im nordhessischen Bad Arolsen an, seit 1955 steht sie unter der Leitung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf. Ein Ausschuss von elf Staaten beaufsichtigt sie.

Der Suchdienst bescheinigt Opfern den Zwangseinsatz und Aufenthalt in deutschen Lagern oder Unternehmen. Betroffene benötigen diese Bestätigung häufig für Anträge auf Entschädigung, etwa im Rahmen der NS-Zwangsarbeiterentschädigung. Der Dienst hat 345 Mitarbeiter und einen Etat von 14 Millionen Euro.
->   Der Internationale Suchdienst
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Kein Dokumentenaustausch
Ein in den 70er Jahren geplanter Dokumentenaustausch sei ebenso wenig zu Stande gekommen wie die Öffnung des Archivs. "Für meine Begriffe mit fadenscheiniger Begründung", so Stein.

Für viel Geld habe die KZ-Gedenkstätte schließlich amerikanische Kopien der Akten gekauft, die die USA in den 50er Jahren vor Übergabe der Dokumente an den Suchdienst angefertigt hatten.
Neue Erkenntnisse erhofft
"Ich vermute, dass der ITS administrative Techniken verwendet, um die Dokumente weniger leicht zugänglich zu machen", sagt Holocaust-Forscher Johannes Houwink ten Cate von der Universität Amsterdam.

Das angebliche Problem des Suchdienstes mit dem Datenschutz sei in der Praxis bereits dutzendfach gelöst worden. Forschern werde der Einblick in Archive oft unter eingeschränkten Bedingungen gewährt.

Und nicht alles, was eingesehen werden könne, dürfe auch veröffentlicht werden. Der Professor verspricht sich bei Öffnung der Akten neue Erkenntnisse in Bezug auf den Holocaust und auch auf die Heimatvertriebenen, deren Zahl bisher unterschätzt werde.
"Datengrab" dient den Tätern
"Das ist ein ewiges Datengrab, das den Menschen helfen sollte, die es betraf", sagt Lothar Eberhardt von der Interessensgemeinschaft der ehemaligen Zwangsarbeiter in Berlin.

Viele seien dabei Opfer der Bürokratie und der langsamen Arbeit des Archivs geworden. "Das dient dem Täterschutz. Die Rolle des Roten Kreuzes ist zweifelhaft", so Eberhardt.

So mancher auf der Täterseite habe kein Interesse, dass Außenstehende Einblick in die Akten nehmen könnten.
Zukunftsentscheidung im Mai
Seit langem steht der Vorwurf im Raum, dass der Suchdienst langsam arbeite und die Akten horte, um das eigene Dasein zu sichern. Hauptaufgabe des Archivs war bisher das Liefern von Belegen für Zwangsarbeit in Deutschland, die Überlebende für Entschädigungen benötigten.

"An den Millionen Dokumenten können die sich noch Jahre festhalten", meint Buchenwald-Archivarin Stein. Der ITS müsse sich von einer humanitären Organisation in ein funktionierendes Archiv verwandeln, erklärt Ten Cate.

Er sei guter Hoffnung, dass dies funktioniert. Eine Entscheidung wird im Mai bei der Jahressitzung der Elf-Staaten-Kommission erwartet.

Michael Evers/dpa, 13.3.06
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01.01.2010