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Meinungsstatistik: Forscher sind "milde Skeptiker"  
  Sind Forscher Konformisten oder schwimmen sie eher gegen den Strom? Sowohl als auch, meinen US-Bioinformatiker, die die Publikationsdaten von 78 biomedizinischen Journalen statistisch ausgewertet haben: Der Durchschnittsforscher passt sich laut der Analyse im Alltag der Mehrheitsmeinung an, neigt aber hin und wieder zum Skeptizismus.  
Das berichten Forscher um Andrey Rzhetsky von der Columbia University, die das Schicksal so genannter Mikroparadigmen in der Fachliteratur untersucht haben.
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Die Studie "Microparadigms: Chains of collective reasoning in publications about molecular interactions" von Andrey Rzhetsky et al. erscheint zwischen 14. und 17. März 2006 in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (doi: 10.1073/pnas.0600591103).
->   Zur Studie (sobald online)
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Revolutionen in der Wissenschaft
Würde man den einflussreichsten Text der Wissenschaftstheorie suchen, wäre vermutlich The Structure of Scientific Revolutions des Physikers und Philosophen Thomas Kuhn ein heißer Tipp: Denn seine 1962 veröffentlichte Studie opponierte wie keine andere gegen die bis dahin vorherrschenden Sichtweise der Wissenschaft als einem stetigen, ausschließlich von Theorie und Experiment geleiteten Prozess.

Kuhns Modell betont hingegen die radikalen Wechsel und Meinungsumschwünge, die sich im Lauf der Wissenschaftsgeschichte ereignet haben - etwa der Übergang von der Ptolemäischen zum Kopernikanischen Kosmologie oder der Wechsel von der Newtonschen Physik zu Albert Einsteins Relativitätstheorie.
Nicht widerlegbar?
Neu und kontroversiell daran war der Gedanke, dass die "Paradigmenwechsel" genannten Übergänge nicht durch kontinuierliche Verbesserungen an der einen oder anderen Theorie vor sich gehen, sondern eher dem Eintritt in eine andere Welt mit einer völlig neuartigen Sichtweise der Dinge gleichkommen.

Damit meinte Kuhn, dass sich verschiedene Paradigmen prinzipiell einem objektiven Vergleich entziehen und man sie daher im strengen Sinn auch nicht widerlegen kann.
->   Thomas Kuhn - Stanford Encyclopedia of Philosophy
Paradigmen unter der Lupe
Diese These blieb zwar nicht unwidersprochen, sie war und ist jedoch so einflussreich, dass sich heute selbst Bioinformatiker explizit auf Thomas Kuhn beziehen, wie etwa die neueste Studie von Andrey Rzhetsky und seinem Team zeigt.

Im Gegensatz zu Kuhn, der die Wissenschaft aus der Vogelperspektive betrachtete, um die großen Bewegungen zu erkennen, nahm nun Rzhetsky gewissermaßen die Lupe zur Hand, um das Muster der Meinungsbildung auf der feinsten Skala sichtbar zu machen.

Bei diesen "Mikroparadigmen" handelt es sich um keine umfassenden Theorien, sondern um einfache Aussagen der Art "Protein A aktiviert Gen B" oder "das Molekül C bindet an das Protein D". Trivialerweise müssen auch sie einem Wandel unterworfen sein, etwa dann, wenn sich ein Experiment im Nachhinein als fehlerhaft herausstellt oder falsche Schlussfolgerungen gezogen wurden.

Bedenkt man, dass in den letzten zehn Jahren allein im biomedizinischen Bereich rund fünf Millionen Studien und Überblicksartikel erschienen sind, dann kann man sich ausmalen, wie oft das passiert ist.
"Text mining" in Fachjournalen
Hier liegt der zweite entscheidende Unterschied zu Kuhns Arbeitsweise: Rzhetsky und sein Team betrieben nämlich keine historische Untersuchung, die sich auf die Ausdeutung von Texten stützt, sondern durchforsteten die Publikationsdaten von 78 biomedizinischen Journalen mit dem Programm "Geneways" - und erfassten so die Schicksale von Millionen Mikroparadigmen auf rein statistischem Weg.

"Text mining" heißt dieser Ansatz im Englischen, bei dem man sich auf die Suche nach verborgenen Mustern im Wust der wissenschaftlichen Veröffentlichungen begibt.
->   Geneways
Ketten von Urteilen
Bild: Rzhetsky et al./PNAS
Von welchen Faktoren hängt nun das Schicksal von Mikroparadigmen ab? Im Prinzip sind es drei Dinge: Erstens die Experimente, die ein Forscher selbst durchführt, zweitens deren Interpretation sowie drittens die zu diesem Thema publizierte Literatur (Bild rechts).

Davon ausgehend sind mehrere Muster denkbar: Ein mögliches, gewissermaßen solipsistisches Szenario wäre etwa, dass Forscher die vorhandene Literatur nicht lesen und sich daher von dieser auch nicht beeinflussen lassen.

In einer solchen Welt wären sämtliche Mikroparadigmen voneinander isoliert und ließen daher auch keine statistischen Muster erkennen. Rzhetsky und sein Team nennen das die "Traue niemandem"-Situation.
Mögliche Szenarien: "Super-Konformismus"
 
Bild: Rzhetsky et al./PNAS

Statistisch möglich, aber auch nicht sehr realistisch ist der "Super-Konformismus": In diesem Szenario bestimmt der Text das Sein, d.h. Forscher replizieren lediglich die Mehrheitsmeinung aus der zuvor veröffentlichten Literatur.

So bleibt etwa der Satz "Protein A aktiviert Gen B" für immer akzeptiert, wenn er einmal in einer Studie als richtig befunden wurde - und er bleibt falsch, wenn er einmal abgelehnt wurde (Abb. E, weiße bzw. graue Kästchen).

Dementsprechend langweilig ist die Angelegenheit, was die Wahrheitsfindung betrifft: Was zählt, ist die erste Publikation zum Thema, Änderungen des Status quo sind nicht möglich (F).
"Super-Antikonformismus"
 
Bild: Rzhetsky et al./PNAS

Umgekehrt sieht es in der Welt der "Super-Antikonformisten" aus: Dort verhalten sich die Forscher wie notorische Querulanten, die sich beim leisesten Zweifel immer gegen die Mehrheitsmeinung entscheiden (G).

Das ergibt für den Fortgang der Wissenschaft eine recht verwirrende Situation: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Kette der Publikationen dereinst ein korrektes Bild liefert, oszilliert zwischen hohen und niedrigen Werten, eine Einigung ist nicht in Sicht (H).
"Milder Skeptizismus"
 
Bild: Rzhetsky et al./PNAS

Last not least gibt es noch das Szenario des "milden Skeptizismus", demzufolge sich Wissenschaftler tendenziell konformistisch verhalten, da die Mehrheitsmeinung mehr zählt als jene von Minderheiten (I).

Allerdings ist das System durchlässig: Treten Widersprüche zwischen den publizierten und den eigenen Resultaten auf, vertraut der Forscher im Zweifelsfall auf sich selbst. Daher kommt es ab und an zu Umschwüngen auf der Ebene der Mikroparadigmen (J).
Zwei Deutungen
All diese Muster kommen in den tatsächlichen Publikationsdaten vor, schreiben Rzhetsky und Kollegen, jedoch überwiegt klar das Bild des "milden Skeptizismus". Erwartungsgemäß.

Überraschend ist hingegen folgende statistische Spielerei: Rein rechnerisch könnten laut Rzhetsky solche Szenarien in zwei ganz unterschiedlichen "Universen" zustande kommen.

Im einen - optimistischen - Fall zeichnen sich die publizierten Studien durch eine relativ geringe Fehlerrate von etwa fünf Prozent aus. Die pessimistische Alternative sieht hingegen vor, dass 90 Prozent falsche Ergebnisse liefern.

Welcher der beiden Fälle zutrifft, könne anhand der vorhandenen Daten nicht zweifelsfrei entschieden werden, so die US-Forscher. Allerdings darf man vermuten, dass sie insgeheim der optimistischen Sicht zuneigen. Denn im pessimistischen Wissenschafts-Universum wäre vermutlich auch ihre Studie falsch.

Robert Czepel, science.ORF.at, 14.3.06
->   Website von Andrey Rzhetsky
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01.01.2010