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Was die EU von Hannah Arendt lernen kann  
  Als Europa nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern lag, entwickelte die politische Denkerin Hannah Arendt die Vision eines "neuen Europa". Nicht mehr auf Nationalstaaten sollte es sich gründen, aber auch nicht auf eine gesamteuropäische Identität. Die Überlegungen von Arendt sind vor dem Hintergrund der Probleme der Europäischen Union noch heute aktuell, meint Lars Rensmann, Politikwissenschaftler und derzeit IFK-Reserarch Fellow, in einem Gastbeitrag.  
Hannah Arendt und die Idee europäischer Demokratie

Von Lars Rensmann

1945, im Angesicht eines politisch-moralisch zerstörten Europas, schrieb die politische Theoretikerin Hannah Arendt, "dass die nationale Souveränität kein taugliches Konzept der Politik mehr ist, da es keine politische Organisation mehr gibt, die ein souveränes Volk innerhalb nationaler Grenzen vertreten oder verteidigen kann.

Deshalb führt der 'Nationalstaat', der seine eigentlichen Grundlagen eingebüßt hat, das Leben eines wandelnden Leichnams, dessen unechte Existenz dadurch künstlich verlängert wird, dass man ihm immer wieder eine Dosis imperialistischer Expansion verabreicht."
Gegen Nationalstaaten und Europatümelei
Arendt entwickelte schon in der frühesten Nachkriegszeit eine ebenso weitsichtige wie prägnante Kritik einer nationalstaatlichen "Restauration des alten Europa".

Gegen die Restauration des "alten Europa" der Nationalstaaten, aber ebenso gegen "europatümelnde" Vorstellungen einer übergreifenden kulturellen europäischen Identität, plädierte die Exilantin Arendt als eine der ersten Intellektuellen für die eine neue politische Ordnung in Europa - eine föderative und dezentrale Neugründung aus Freiheit.

In Arendts Ideen für eine offene europäische Demokratie spielen ihre eigenen biographisch-politischen Erfahrungen eine Rolle. Doch bietet der Blick zurück auf fast 60 Jahre alte Texte erstaunlich aktuelle wie erhellende Einsichten auf heutige Problemhorizonte der Europäischen Union.
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Vortrag am IFK
Lars Rensmann hält am 20. März 2006, 18.00 c. t. am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Nach der Katastrophe: Hannah Arendt, die europäische Moderne und die Idee postnationaler Demokratie".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   IFK
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Paradox des Nationalstaates
Zum Nationalstaat zeitigt Arendt ein zwar kritisches, aber auch ein ambivalentes Verhältnis. Den Niedergang nationalstaatlicher Ordnungsmacht diagnostiziert sie nicht frei von Melancholie.

Denn der demokratische Nationalstaat hatte in seinem territorialen Rahmen nicht nur demokratische Volkssouveränität gewährleistet, sondern im Rechtsstaat auch liberale und universalistische Normen institutionalisiert.

Daran lag für Arendt indes auch ein stetiges Paradox, das im 20. Jahrhundert implodierte: "Die gleiche Nation stellte sich einerseits unter die Herrschaft eines Gesetzes, dessen Quellen angeblich nur in den Menschenrechten zu suchen waren, und proklamierte doch gleichzeitig seine absolute Souveränität, derzufolge sie keinen allgemeinen, sondern nur nationalen Gesetzen unterworfen war und nichts Höheres anerkannte als den souveränen Volkswillen, also sich selbst."
Ethnisch begründeter Nationalstaat obsolet
Das Modell eines undemokratischen, ethnisch begründeten Nationalstaates, das in Europa im 20. Jahrhundert zeitweise dominierte, hat für Arendt mit der europäischen Katastrophe sein geschichtliches Recht ohnehin verwirkt.

Doch überhaupt lasse sich nationale Souveränität, welcher selbst der legitime Souverän abhanden gekommen ist, im modernen Zeitalter "weltweite(r) Abhängigkeit aller untereinander" nur noch künstlich behaupten.
Funktionale Äquivalente - in dezentraler Europa-Republik
Doch eine liberale Demokratie, die auf die Gestaltungsressourcen des Nationalstaates nicht mehr bauen kann, benötigt auch "funktionale Äquivalente" (Brunkhorst) für demokratische Souveränität und die Durchsetzung menschenrechtlicher Normen. Demokratie und Menschenrechte dürften nicht zu abstrakten Hoffnungen einer post-nationalen Utopie verkommen.

Dem alten Nationalismus und abstrakten supra-nationalen Utopien hält Arendt deshalb die Idee einer dezentralen europäischen Republik entgegen, die den bisherigen territorialen Grenzen entragt, ohne sie abzuschaffen. Dabei beruft sie sich nicht zuletzt auf die "authentisch europäischen" Widerstandsbewegungen gegen den Nationalsozialismus.
Die Fallen des "Pan-Nationalismus" ...
Die Widerstandskämpfer gründeten sich in ihren Freiheitsbestrebungen nicht auf eine kulturelle europäische Identität eines großartigen 'alten Europa'. Sie stützten sich auf die Idee eines grundlegenden kontinentalen politischen Neuanfangs.

Arendt sieht dementsprechend nicht nur die Restauration und den Nationalismus, sondern zugleich einen europäischen Pan-Nationalismus, der sich auf Andere als Gegenbilder stützt, als zweite große Gefahr für die demokratische Neugründung Europas, welche die europäische Politik reflektieren müsse.
... Amerika als das "Andere"
"Wenn es stimmt, dass am Beginn eines jeden Nationalismus (...) ein wirklich oder konstruierter gemeinsamer Feind steht, dann könnte das aktuelle Amerika-Bild in Europa," so Arendt 1954, "sehr wohl den Beginn eines neuen paneuropäischen Nationalismus markieren.

Unsere Hoffnung, dass die Entstehung eines föderativen Europas und die Auflösung des Nationalstaatensystems den Nationalismus zu einer Sache der Vergangenheit machen wird, mag auf eine ungerechtfertigte Weise optimistisch sein. (...) Amerikanismus auf der einen und Europatümelei auf der anderen Seite des Atlantik - dies sind zwei Ideologien, die sich gegenüberstehen, die einander bekämpfen und, wie alle scheinbar entgegen gesetzten Ideologien, einander ähneln, und darin könnte eine der Gefahren liegen, denen wir ins Auge sehen müssen."
Europa als post-nationales demokratisches Projekt
Dagegen setzt Arendt Europa als politisches Projekt, das bereits deutlich post-nationale Züge trägt. Arendts Idee einer neuen europäischen Demokratie als Föderation zielt nicht auf einen homogenen Einheitsstaat mit kulturell homogenen Volkssouveränen, sondern visioniert ein gemeinsames politisches Projekt der Vielen und Verschiedenen.

Statt der gewagten Konstruktion einer übergreifenden kulturellen Identität begründet es sich aus der Freiheit zum Neuanfang und geteilten politischen Überzeugungen.

Arendt offeriert uns freilich kein konkretes politisches Ordnungsmodell einer europäischen Demokratie; sie lässt offen, ob eine europäische Föderation in Form eines Staatenbundes oder eines Bundesstaates verwirklicht werden könnte oder sollte.
Vorbild für Europa: Amerikanische Republik
Wie Seyla Benhabib betont, bleibt hierbei Arendt nicht nur kritisch gegenüber der 'westfälischen' Ordnung der Nationalstaaten, sondern auch skeptisch gegenüber allen Formen und Idealen eines Weltstaates oder einer globalen Demokratie. Demokratie benötigt Grenzen, auch wenn die Menschenrechte eine neue Art der Geltung finden sollen.

Arendts Vorbild für eine Europäische Union ist die Gründung der amerikanischen Republik, dem "größten Abenteuer der Menschheit Europas, (...) dessen Geist letztlich stärker war als alle nationalen Unterschiede."
Bürgergesellschaft plus "Menschenrechte statt Kultur"
Sie setzt dabei auf die (Anziehungs-)Kraft demokratischen Handelns mit menschenrechtlicher Orientierung statt auf die Rehabilitierung der kulturellen 'Tradition'.

So scheint eine Logik des Post-Nationalen zwischen Universalismus und demokratischer Souveränität auf, die sich jenseits von fest umrissenen prä-politischen Kulturgemeinschaften ausweisen müsse, wie sie für die Konstruktion des Nationalstaates typisch waren.

Dringend notwendig erachtet sie dagegen einen breiten Selbstverständigungsprozess einer europäischen Bürgergesellschaft. Der Erfolg des Projekts misst sich schließlich an der Praxis der Demokratie, der Einbindung der Menschen in den politischen Prozess, und an der Fähigkeit des Gemeinwesens, Antworten auf die Herausforderungen des Zeitalters zu gewinnen.
Europa - erfunden aus eigener Freiheit
Die Idee vom "alten Europa" hat bei Arendt indes keinerlei positiven Klang. Seine Ressourcen seien längst erschöpft.

Für sie bleibt nur der Weg eines neuen Europa legitim und hoffnungsvoll, das aus dem Versagen der europäischen Tradition und der ihr eingeschriebenen Geschichte von Krieg, Terror und Verfolgung Lehren für eine Zukunft zieht, in der neue Brücken zwischen demokratischer Souveränität und kosmopolitischen Normen - dem universellen Recht, Recht zu haben - gebaut werden können.

Arendt deutet auf die Idee eines neuen Europa, das sich von kulturellen Mythen und Nationalismus befreit, ohne dabei kulturelle Identitäten zu verleugnen; und das nicht über neue Feindbilder, sei dies 'kulturlose' Amerika oder die vorgeblich 'zurückgebliebene' Türkei, zusammenfindet, sondern sich aus eigener Freiheit demokratisch neu erfindet.

[17.3.06]
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Über den Autor
Lars Rensmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und derzeit IFK-Research Fellow.
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01.01.2010