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Nationalismus kein Widerspruch zu EU-Identität  
  Trotz oder wegen "Globalisierung" und der Erweiterung der Europäischen Union fühlen sich die meisten Menschen als Teil einer Nation oder einer Region. Steht dieser Nationalismus oder Regionalismus dem Einigungsgedanken der EU entgegen? Laut einer Studie des Grazer Soziologen Max Haller ist das nicht der Fall. Eine starke Bindung zur Heimat und die Identifikation mit einer größeren Einheit sind ihm zufolge keine unvereinbaren Gegensätze.  
"Vielmehr wurde deutlich, dass Menschen, die in ihrer Stadt, ihrer Region verankert sind, sich auch mit ihrem Land stärker verbunden fühlen und ebenso die Europäische Union eher bejahen", berichtet Haller vom Institut für Soziologie der Universität Graz.

Personen hingegen, die generell politisch weniger interessiert sind, kümmern sich weder besonders um ihr Land noch um die EU.
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Max Haller und seine "Studiengruppe international vergleichende Sozialforschung" untersuchten die Beziehung zwischen "lokal-regionaler", nationaler Identität und einer europäischen Orientierung. Von ihren Ergebnissen berichtet die aktuelle Ausgabe der "Uni-Zeit", die Zeitschrift der Universität Graz.
->   Uni-Zeit 1/2006 (Universität Graz, pdf-Datei)
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Multiple Gesinnungen
"Nationalismus und eine kosmopolitische Gesinnung müssen einander demnach nicht ausschließen.

Leute mit einer 'modernen Einstellung' entwickeln nämlich gleichzeitig mehrere, einander ergänzende Identitäten, eine nationale und eine europäische", erklärt der Wissenschaftler.

Die Autonomie der Nationalstaaten zu wahren und lokal-regionale Einheiten durch weit reichende Autonomie zu stärken könne daher für die EU nur von Vorteil sein.
Europaweite Kommunikation fehlt
Die EU-Verdrossenheit zahlreicher Bürger der Mitgliedsstaaten sowie ihr mangelndes Vertrauen in die Politik der Europäischen Union sieht Max Haller wesentlich in einem der größten Defizite der EU begründet: dem Fehlen einer lebendigen, europaweiten Kommunikation über gemeinsame politische Themen. Diese Ansicht wird von den Studienergebnissen bestätigt.
Sprache ist am wichtigsten
Auf die Frage, was die wichtigsten Dinge seien, "um wirklich ein Österreicher, eine Österreicherin zu sein", gaben die Menschen hierzulande folgende Antworten: "Deutsch sprechen zu können", gefolgt von "die österreichischen politischen Institutionen und Gesetze zu achten". Das Ergebnis war in allen anderen europäischen Ländern das gleiche.

"Der hohe Stellenwert der Sprache ist ein wichtiges Indiz für die maßgebliche Rolle der Kommunikation zur Schaffung einer gemeinsamen Identität und des Gefühls der Zusammengehörigkeit", ist der Soziologe überzeugt.
Nationalstaaten verlieren nicht an Bedeutung
Die Grazer Wissenschaftler haben die österreichischen Ergebnisse mit denen der anderen Länder verglichen, vor allem mit jenen aus den EU-Staaten, und stellten dabei fest: Selbst im Zeitalter der Globalisierung bleiben Nationalstaaten die mächtigsten Akteure auf der internationalen Bühne - eine Rolle, die ihnen auch die Großkonzerne nicht streitig machen.

"Die Studie widerlegt, dass Nationalismus und Nationalstaaten angesichts größerer politischer Einheiten an Bedeutung verlieren", fasst Projektmitarbeiterin Regina Ressler zusammen.
Personale Identität ist in erster Linie sozial
Im Zusammenhang mit dem Konzept der personalen Identität sollte die nationale Komponente aber auch nicht überschätzt werden.

Denn wie Bernadette Müller im Rahmen ihrer Dissertation herausfand, definieren sich die Menschen in erster Linie über ihre soziale Identität in ihrem täglichen Umfeld.

Ganz oben steht dabei die Position in der Familie, gefolgt vom Beruf und der Rolle als Mann beziehungsweise Frau. Erst dann kommen Staatsbürgerschaft, nationale und ethnische Herkunft.
Ethnie v.a. bei Konflikten wichtig
Den zuletzt genannten Aspekten wird lediglich in jenen Ländern vorrangige Bedeutung zugeschrieben, wo nationale oder ethnische Probleme besonders virulent sind.

"So zeigt sich im weltweiten Vergleich von 36 Staaten, dass in Israel und von Südafrikanern die ethnisch-nationale Zugehörigkeit am häufigsten als wichtigster Aspekt der Persönlichkeit angesehen wird", berichtet Müller.

[science.ORF.at, 20.3.06]
->   Institut für Soziologie der Uni Graz
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01.01.2010