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Wie Kultur das Denken formt  
  In der Sprache der Piraha - ein brasilianisches Jäger- und Sammlervolk - kommen keine Zahlwörter vor. Versuche, den Piraha das Zählen beizubringen, waren bisher von wenig Erfolg gekrönt. Sprachwissenschaftler werteten dies als Beleg für die These, wonach die Sprache unser Denken und unsere Kultur determiniere. Ein Linguist, der als einer von lediglich drei Außenstehenden der Piraha-Sprache mächtig ist, widerspricht nun dieser Annahme.  
Es sei die Kultur, die die Sprache der Piraha prägt und nicht umgekehrt, behauptet Daniel L. Everett von der University of Manchester.
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Daniel L. Everetts Studie "Cultural Constraints on Grammar and Cognition in Piraha: Another Look at the Design Features of Human Language" erschien in Current Anthropology, Band 46, Nr. 4, S. 621-646.
->   Abstract
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Kultur als Schlüssel zur Sprache
Everett hat insgesamt mehr als sieben Jahre mit den Pirahas gelebt, die an einem dreihundert Kilometer langen Küstenabschnitt des Flusses Maici im brasilianischen Amazonas-Tiefland leben.

In der Zeitschrift "Cultural Anthropology" argumentiert Everett, dass nicht ihre Sprache die Pirahas daran hindere, das Zählen zu lernen, sondern ihre Kultur.

Da für die Piraha-Kultur die Bezugnahme auf die unmittelbare und persönliche Alltagserfahrung zentral sei, käme ihre Sprache ohne abstrakte Quantifizierungskonzepte aus. Vokabular und Grammatik der Piraha würden ein Sprechen über derartige abstrakte Konzepte nicht vorsehen, da diese ihre unmittelbare Lebenswelt schlichtweg nicht betreffen.
Leben in der Gegenwart
 
Bild: Daniel L. Everett

Bild: Typisches Piraha-Haus

Dass die Piraha eines der wenigen Völker auf der Welt sind, das keinen Schöpfungsmythos besitzt, fügt sich in diesen unmittelbaren Zugang zur Welt, so Everett.

Die stark gegenwartsbezogen lebenden Piraha kennen auch kein individuelles oder kollektives Gedächtnis, das mehr als zwei Generationen umfasst. In ihrer Sprache gibt es daher nur eigene Begriffe für "Tochter" und "Sohn". Alle Familienbeziehungen, die über diese Ebene hinausgehen, werden mit allgemeinen Umschreibungen wie "älteren" und "jüngeren Generationen" gefasst.
Everett kontra Sapir-Whorf ...
Everett präsentiert in seiner Studie zahlreiche weitere Belege für seine These, wonach die besondere Kultur der Piraha die Sprache und die Art und Weise ihres Denkens prägt. Damit fordert er sowohl Anhänger der Sapir-Whorf-Hypothese als auch Noam Chomsky mit seinem einflussreichen Konzept einer "Universellen Grammatik" heraus.

Die in den 30er Jahren entwickelte Hypothese von Edward Sapir und Benjamin Whorf geht von der Grundannahme aus, dass die Sprache unser Denken und damit auch unsere Kultur prägt.
->   Die Sapir-Whorf-Hypothese - Wikipedia
... und Chomsky
Der Linguist Chomsky hatte in den 1960er Jahren seine Theorie präsentiert, wonach Kinder deshalb so leicht sprechen lernen würden, weil eine solche Grammatik allen Menschen angeboren sei und unser Sprachvermögen strukturiere.

Die Erkenntnisse über die Piraha-Sprache widerlegen diese Theorie, die den Spracherwerb abgekoppelt von sozialen Prozessen betrachtet, fundamental, so Everett.
->   Universelle Grammatik - Wikipedia
Das Verhältnis von Sprache und Kultur
Kritiker werfen Everett vor, Whorfs Konzept, wonach die Sprache das Denken steuere, missverstanden zu haben, da Sprache selbst ein integraler Teil von Kultur sei. Dennoch sympathisieren auch Anhänger des Whorfschen Modells mit Everetts Grundthese, wonach Sprache und Kultur nicht isoliert von einander betrachtet werden können.

Dass Sprache und Kultur untrennbar miteinander verquickt sind, gehört auch seit längerem zu den Grundpositionen jeder kulturwissenschaftlichen Forschung.
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Literaturtipp:
Kate Douglas, "Lost for Words", in: "NewScientist", 18. März 2006, S. 44-47.
->   Artikel
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Piraha genießen verstärkt Aufmerksamkeit
Während die Debatte weitergeht, verzeichnet Everett zumindest in einer Hinsicht Erfolge: Die Piraha ziehen verstärkt die Aufmerksamkeit vor allem junger Feldforscher auf sich. Dies könnte jedoch auch unerwünschte Auswirkungen haben, wie Kate Douglas in der aktuellen Ausgabe des "New Scientist" berichtet.

Trotz vielfältiger Einflüsse von außen haben sich die Piraha ihre besondere Lebensweise und ihre Einsprachigkeit zwar seit mehr als 200 Jahren bewahrt. Auch Außenstehende, die ihre Sprache gelernt und ihren Lebensstil angenommen haben, wurden in ihre Gemeinschaft aufgenommen.

Everett fürchtet jedoch, dass die immer stärkere Präsenz von Siedlern, aber auch unterschiedliche Folgen der Globalisierung den stark auf einen konstanten Lauf der Dinge setzenden Lebensstil der Piraha nachhaltig beeinträchtigen könnten.

[science.ORF.at, 20.3.06]
->   Daniel Everett, Department of Linguistics, University of Manchester
Mehr zum Thema auf science.ORF.at:
->   Leben ohne Zahlen: Wie Sprache das Denken formt (20.8.04)
->   Links im Hirn: Der Sitz von Chomskys "Universal-Grammatik" (23.6.03)
 
 
 
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01.01.2010