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Warum wir uns schämen: Scham in der Literatur  
  Körperliche Symptome wie das Erröten zeigen, dass wir uns gegen das Schämen kaum wehren können. Wofür wir uns schämen, ist jedoch dem historischen Wertewandel unterworfen, meint eine deutsche Anglistin.  
Ingrid Hotz-Davies von der Universität Tübingen untersuchte anhand von literarischen Texten vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, wie Schriftsteller die Scham als Strategie zur Beeinflussung ihrer Leser einsetzen - und wie sich die Schaminhalte im Laufe der Zeit verändert haben.
Scham als Textstrategie
Scham könne von Autoren bewusst instrumentalisiert werden, weil sie so ansteckend sei, erklärt Hotz-Davies. Viele Werke lenken den Leser bewusst mit Scham in eine bestimmte Leserichtung. Die Ideologien, die diese Scham motivieren, werden für den Leser unter dem Druck der Peinlichkeit unsichtbar.

William Shakespeares Theaterstück "Antonius und Cleopatra" (1607) sei ein Beispiel für solche Textstrategien, so Hotz-Davies. Die Figur des triebhaft agierenden Antonius, der Schlachten verliert und dem sogar der geplante Selbstmord misslingt, sei zutiefst in ihrer Männlichkeit "beschämt".

Während eine derartige "Unmännlichkeit" heute vermutlich nicht mehr peinlich sei, gab es bis ins 20. Jahrhundert Leser, die sich mit der "Scham" des Helden Antonius identifizierten und die Ansicht vertraten, dieser hätte besser gemäß den römischen Wert- und Normvorstellungen handeln sollen, erklärt Hotz-Davies.
Schamlose Helden
Mehr aber noch interessiert sich Hotz-Davies für literarische Figuren, die sich der Scham entziehen. Denn sie würden den Leser zwingen, sein eigenes Wertesystem zu überdenken und Position zu beziehen.

Die Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts kennt zahlreiche "Schamlose". In Shakespeares "Heinrich IV" fragt der Trunkenbold Fallstaff die Zuschauer "What is honor?" und stellt damit die Selbstaufopferung für einen unsinnigen Ehrbegriff in Frage. Die Angesprochen werden damit auch gleich selbst aufgefordert, den Sinn der männlich-militärischen Ehre, die im Stück immer wieder hymnisch beschworen wird, zu hinterfragen.
Die Disziplinierung des Vulgären
Die schamlosen Figuren verschwinden im 18. Jahrhundert zusehends, hat Hotz-Davies beobachtet. In einer Zeit, in der die sich die Gründe, sich zu schämen, explosionsartig vermehren, tauchen die Schamlosen in der Literatur nicht mehr als selbstbewusste Figuren auf, sondern nur noch als Vulgäre, die gegen die immer strengeren Benimmregeln verstoßen.

In den populären Benimmromanen des 18. und 19. Jahrhunderts dienen diese Vulgären als Kontrast zum gesellschaftlich akzeptablen Verhalten der Helden und der frauenspezifischen Disziplinierung der Heldinnen.

In Jane Austens Roman "Stolz und Vorurteil" schämt sich die Heldin in einem fort - für ihre Familie und ihre "vulgäre" Schwester Lydia, die keine gesellschaftlichen Regeln anerkennt. Durch Schamerlebnisse wird die Heldin so lange "zurechtgeboxt", bis sie am Ende doch noch heiraten kann und die ihr zugedachte Rolle erfüllt, so Hotz-Davies.

Dass die Schamlosen im 19. Jahrhundert immer weiter aus der Literatur verschwinden, erklärt Hotz-Davies damit, dass die Gesellschaft es zu dieser Zeit nicht ertrug, durch solche Figuren in Frage gestellt zu werden.
Verbotene Wünsche und Versagensangst
Verbotene Wünsche, die überzogen dargestellt werden, um damit schambesetzte Empfindlichkeiten ästhetisch auszudrücken, und das Gefühl des Versagens gehören zu den Hauptinhalten der Scham im 20. Jahrhundert. Eine umfassende Literaturgeschichte der Scham steht aber, so die Anglistin Hotz-Davies, noch ganz am Anfang.

[science.ORF.at, 20.3.06]
->   Seminar für Englische Philologie an der Universität Tübingen
 
 
 
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01.01.2010