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Fataler Medikamententest: Suche nach den Ursachen  
  Vor rund einer Woche haben sechs Probanden bei einem Medikamententest in London ein Multiorganversagen erlitten, zwei davon schweben noch immer in akuter Lebensgefahr. Experten rätseln nun über die Ursachen des außer Kontrolle geratenen Experiments. Eine Möglichkeit ist etwa, dass das verabreichte Präparat die falsche Sorte von Immunzellen aktivierte, die dann lebenswichtige Organe angriffen.  
Nicht auszuschließen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch Verunreinigungen und Überdosierungen. Eine Untersuchung der britischen Medikamenten-Aufsichtsbehörde soll nun für Klarheit sorgen.
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Den Ursachen des folgenschweren Medikamententests gehen folgende Artikel nach: "Tragic drug trial spotlights potent molecule", erschienen auf der Website von "Nature" (doi: 10.1038/news060313-17), "One drug, six men, disaster..." erschienen in "New Scientist" (Ausgabe vom 25.3.06, S. 10-11).
->   New Scientist
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Versuch mit schrecklichem Ausgang
Es waren Szenen des Schreckens, die sich am Morgen des 13. März in einer Londoner Klinik des US-Konzerns Parexel zugetragen haben: Acht Freiwillige bekamen im Rahmen eines pharmazeutisch-klinischen Versuchs einen Wirkstoff verabreicht, der zuvor noch nicht am Menschen gestestet worden war.

Binnen weniger Minuten klagten sechs Probanden über heftige Schmerzen und Hitzewallungen, rissen sich die Kleider vom Leib, kippten nach Augenzeugenberichten um "wie Dominosteine" und wurden daraufhin in die Intensivstation eingeliefert. Diagnose: Multiorganversagen.

Die zwei anderen kamen mit dem Schrecken davon - sie hatten nur Placebos erhalten. Mittlerweile sind vier der sechs Opfer wieder bei Bewusstsein, zwei sind nach wie vor in kritischem Zustand. Ihr Schicksal ist äußerst ungewiss.
->   Medikamententest: Vier Patienten bei Bewusstsein
Wirkstoff bindet an Immun-Rezeptor
Nun fragt sich alle Welt: Was geriet hier außer Kontrolle? Was passierte im Körper der Probanden? Eine mögliche Antwort darauf liefert das verabreichte Präparat und seine intendierte Wirkung.

Bei dem Wirkstoff handelt es sich um einen monoklonalen Antikörper namens TGN1412, also ein in Zellkultur hergestelltes Molekül, das an Immunzellen andockt und in diesen bestimmte Reaktionen hervorruft.

Im Fall von TGN1412 passiert folgendes: Das Molekül bindet an einen so genannten CD28-Rezeptor von T-Zellen, woraufhin sich diese stark vermehren - und zwar ohne ein sonst übliches Zusatzsignal, das durch einen zweiten Rezeptor vermittelt wird.

Aufgrund dieses außergewöhnlichen modus operandi nennt man TGN1412 auch einen "Super-Agonisten" (Blood, Bd. 102, S. 1764).
->   T-Zellen - Wikipedia
Spezifische Gruppe von T-Zellen aktiviert
Der eigentliche Clou an der Sache ist, dass nicht alle T-Zellen gleich reagieren. Der von TGN1412 ausgelöste Vermehrungsschub betrifft insbesondere die so genannten regulatorischen T-Zellen, welche die Aktivität anderer Immunzellen hemmen.

Diese immunologische Bremse sollte im Prinzip verhindern, dass versehentlich körpereigenes Gewebe angegriffen wird. Aufgrund dessen hoffte die Entwicklerfirma TeGenero aus Würzburg, dass TGN1412 später zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen wie etwa rheumatoider Arthritis eingesetzt werden könnte.
Ähnliche Versuche ohne Nebenwirkungen
Der Ansatz ist grundsätzlich nicht neu: So haben US-Forscher letztes Jahr gewisse T-Zellen von Krebspatienten durch einen spezifischen Antikörper "scharf" gemacht, woraufhin diese Tumorzellen angriffen (Journal of Clinical Oncology, Bd. 23, S. 6043).

Ähnliche Erfolge vermeldete ein internationales Forscherteam bei der Behandlung von Typ-1-Diabetes, einer typischen Autoimmunerkrankung. Hier wurde ein T-Zell-Rezeptor mit einem monoklonalen Antikörper blockiert - mit dem Ergebnis, dass sich regulatorische T-Zellen vermehrten und offenbar die Autoimmunreaktion drosselten (NEJM, Bd. 352, S. 2598). Nebenwirkungen gab es dabei - bis auf vorübergehende grippeartige Symptome - keine.
Falsche T-Zell-Population aktiviert?
Warum also die desaströsen Nebenwirkungen bei dem Medikamententest vor einer Woche? "Eine Möglichkeit ist, dass der Wirkstoff nicht nur regulatorische, sondern sämtliche T-Zellen aktiviert hat", meint Michael Ehernstein vom University College in London gegenüber "New Scientist": Wäre das der Fall, "würden die T-Zellen alles und jeden angreifen", so Ehrenstein - inklusive lebenswichtiger Organe.
Bindungsstärke unterschätzt?
Einen anderen Erklärungsansatz präsentiert sein Kollege Andrew Martin: Er weist darauf hin, dass der Rezeptor, an den TGN1412 bindet, bei Tieren und Menschen nicht ganz ident ist. Die aus 15 Aminosäuren bestehende Bindungsstelle unterscheidet sich im Vergleich zur humanen Version bei Nagetieren durch mindestens zwei, bei Affen immerhin durch eine Aminosäure.

"Das könnte die Bindungsstärke des Antikörpers leicht um einige Größenordnungen verändern", betont Martin. Womit auch erklärt wäre, dass Tierversuche mit TGN1412 keinerlei auffällige Resultate ergaben, während der erste Versuch am Menschen - wie bekannt - katastrophal endete.
Überdosierungen und Verunreinigungen möglich
Das ist allerdings nicht die einzige Spur, die man in diesem Fall verfolgt. Ebenfalls in Diskussion sind eventuelle Überdosierungen sowie Verunreinigungen. Unter letzteren wäre etwa eine Kontamination mit dem Bakterium Escherichia coli eine plausible Erklärung, da diese einen septischen Schock und eine Überreaktion des Immunsystems auslösen könnte.

Um sich von der Ebene der Spekulationen auf den Boden harter Fakten zu begeben, hat die britische Medikamenten-Aufsichtsbehörde (MHRA) nun eine Untersuchung gestartet, die vermutlich einige Wochen in Anspruch nehmen wird.

Die Behörde, die den Medikamententest bewilligt hat, hat indessen die präklinischen Datenblätter von TGN1412 erneut untersucht und kommt zu dem Schluss, dass nichts auf mögliche Gefährdungen der Testpersonen hingewiesen habe: "Wir würden heute die selbe Entscheidung treffen", so der Sprecher der MHRA.

Robert Czepel, science.ORF.at, 23.3.06
->   TGN1412 - Wikipedia
->   TeGenero
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01.01.2010