News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Liebe zur Demokratie: Eine Frage des Wohlstands  
  91 Prozent der Isländer halten die Demokratie für die ideale Regierungsform; unter den Weißrussen sind es lediglich 33 Prozent. Dass es einen Zusammenhang zwischen der Einstellung zur Demokratie und der politischen Geschichte sowie der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes gibt, hat der Grazer Soziologe Markus Hadler in einer aktuellen Studie gezeigt. Er warnt aber vor voreiligen Rückschlüssen.  
Einstellung zu vier Regierungsformen untersucht
Hadler hat die Einstellung der europäischen Bevölkerung zu vier Regierungsformen näher analysiert: zur Demokratie, zur Expertenregierung, zur Regierung eines starken Führers und zur Armeeregierung.

Datenbasis für seine Untersuchung bildete die World Values Survey (WVS) der Jahre 1999 und 2000. Die dort erhobenen Stichproben sind repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ab einem Alter von 18 Jahren.
->   World Values Survey
...
Markus Hadlers Artikel "Wie demokratiefreundlich sind die EuropäerInnen? (Süd)ost- und Westeuropa im Vergleich" ist in der aktuellen Ausgabe der SWS-Rundschau erschienen, die dem Schwerpunkt "Südosteuropa im Kontext der europäischen Integration" gewidmet ist (46. Jg., Heft 1/2006, S. 65-85).
->   Abstract
...
Feindifferenzierung nötig
84 Prozent der befragten Europäer erachten die Demokratie als "sehr gute" oder "gute" Regierungsform.

Dieses positive Ergebnis kommt jedoch nur dann zustande, wenn die Bewertung der Regierungsform "Demokratie" isoliert von jener der anderen Regierungssysteme abgefragt wird.

Wirft man einen Blick auf die Bewertungen für alle vier Regierungsformen, so fällt das Ergebnis deutlich differenzierter aus.

Die meisten Europäer fühlen sich zwar als Demokraten. Das hindert viele jedoch nicht daran, gleichzeitig eine Expertenregierung zu begrüßen; manche können sich sogar gleichzeitig eine Armeeregierung vorstellen.
Soziodemografische Faktoren ausschlaggebend
Entscheidend sind laut Hadler soziodemografische Faktoren: Jene Gruppen, unter denen die Zustimmung zur Demokratie am höchsten ist, sind in der Regel höher gebildet, arbeiten in prestigereichen Berufen und leben im urbanen Raum.

Junge Leute gehören entgegen den Erwartungen nicht automatisch zu den am stärksten demokratisch orientierten Personen, so Hadler. Ausbildung und Berufsstatus sind hier relevanter.

Auffällig ist auch, dass in jenen Gruppen, die der Regierungsform gegenüber eher indifferent sind, Frauen häufiger zu finden waren als in anderen Gruppen. Dies könnte laut Hadler an der unterschiedlichen Einbindung von Männern und Frauen in das politische Leben, aber auch an der geschlechtsspezifischen Sozialisation liegen.
Westeuropa demokratischer
Undemokratische Haltungen finden sich prinzipiell in allen europäischen Ländern, so Hadler. Allerdings zeige die Studie, dass in den westeuropäischen Staaten wesentlich mehr Personen demokratisch orientiert sind als in denn ehemals kommunistischen Staaten.

Hier lässt sich also ein deutlicher Zusammenhang mit der jeweiligen Tradition von Demokratie, aber auch mit den aktuellen politischen Rahmenbedingungen und dem sozioökonomischen Entwicklungsniveau festmachen.
Statistische "Ausreißer": Tschechien, Slowenien...
"Ausreißer" aus der Statistik sind Slowenien und die Tschechische Republik, die einen großen Anteil an "Demokraten" aufweisen.

Die Tschechische Republik hatte als einziges unter den postkommunistischen Ländern substanzielle Erfahrungen mit der Demokratie in der vorsozialistischen Zeit gemacht. Sie gilt mit ihrer besonders demokratiefreundlichen politischen Kultur als Sonderfall.

Slowenien wiederum hat sich im Vergleich zu den anderen Nachfolgestaaten Jugoslawiens seit 1991 wirtschaftlich und politisch besonders positiv entwickelt.
... und Albanien
Ein weiteres herausragendes Ergebnis lässt sich für Albanien feststellen, wo der Anteil der "Demokraten" größer ist als etwa in Spanien, Litauen oder Polen.

Angesichts des äußerst niedrigen Lebensstandards und der durch autokratische bzw. diktatorische Regime gekennzeichneten Geschichte des Landes ist das erstaunlich.
Fazit für aktuelle Demokratisierungsprozesse
Was bedeuten Hadlers Befunde nun im Hinblick auf aktuelle Versuche, das Demokratiebewusstsein in breiten Bevölkerungsschichten zu stärken?

Projekte wie der Stabilitätspakt der Europäischen Union, der versucht, Frieden, Demokratie und die ökonomische Entwicklung in Südosteuropa zu fördern, sind für Hadler auf dem richtigen Weg.

Eine gewisse soziökonomische Absicherung dürfte eine notwendige Voraussetzung sowohl für die individuelle Wertschätzung der Demokratie als auch für die institutionelle Demokratisierung sein, so Hadler
Gegen voreilige Schlüsse
Die Entwicklung von demokratischen Haltungen brauche aber Zeit. In Spanien und Portugal etwa, die in den 1970er Jahren den Übergang von autoritären Regimen zu Demokratien vollzogen haben, sind undemokratische Haltungen bis heute relativ stark ausgeprägt, so Hadler.

Er warnt daher davor, allzu schnell über die demokratische Reife der (süd)osteuropäischen Bevölkerung zu urteilen.

Würde man die Kopenhagener Kriterien, die die Demokratiestandards für einen EU-Beitritt festlegen, rigoros anwenden, hätten nicht nur viele südost- und osteuropäische Staaten noch einen weiten Weg in die EU vor sich. Streng genommen müsste man auch einige der heutigen EU-Mitgliedsstaaten ausschließen.

Martina Nußbaumer, science.ORF.at, 24.3.06
...
Markus Hadler ist Assistent am Institut für Soziologie der Universität Graz. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit international vergleichender Sozialforschung, politischer Soziologie, sozialer Ungleichheit sowie mit Methoden der empirischen Sozialforschung.
->   Institut für Soziologie der Universität Graz
...
->   Kopenhagener Kriterien - Europäisches Parlament
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010