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Schwieriges Verhältnis: Freud und die Universität  
  Die Psychoanalyse hatte es an Österreichs Universitäten nie leicht. Das war schon zu Sigmund Freuds Zeiten so, der es selbst nie zu einer Professur geschafft hat. Der Germanist Michael Rohrwasser geht dem Verhältnis Freuds zur Universität Wien in einem Gastbeitrag nach. Seiner Ansicht nach hat der Widerstand der "Alma Mater" dazu beigetragen, dass aus der Psychoanalyse selbst eine "Alma Mater" wurde.  
Freud und die Alma Mater
von Michael Rohrwasser

Freud hat sich länger als andere Kollegen seiner Fakultät um eine Ernennung zum Titularprofessor bemüht und hielt über lange Jahre hinweg Vorlesungen ab, an Samstagnachmittagen zwischen fünf und sieben, wenn auch, bis um 1900, vor kleiner Hörerschaft.

Josef und Renée Gicklhorn schreiben, dass er als akademischer Lehrer versagt habe - eine provokante These, der andere mit gutem Grund widersprechen. Immerhin hat er 32 Jahre lang doziert, wie er in einem Brief an Oskar Pfister zusammenrechnet, und zwar bis zum Jahr 1918.
Zwei Stunden reden, ohne zu ermüden
Fritz Wittels erinnert sich, dass er bei seinen Vorlesungen "ohne irgend eine geschriebene Hilfe fast zwei Stunden lag sprach und seine Zuhörer niemals ermüdete".

In den Wintersemestern 1915/16 und 1916/17 hielt er vor einer inzwischen größeren Zuhörerschaft zwei Reihen von einführenden Vorlesungen mit der Absicht, sie zu veröffentlichen.

Diese erschienen 1916 im Druck, als erster Teil der berühmten "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse", die an Popularität nur übertroffen wurden von der "Psychopathologie des Alltagslebens".
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Symposium in Wien
Unter dem Titel "Heimliche Beweggründe" veranstaltet die Medizin-Uni Wien am 24. und 25. März ein wissenschaftliches Symposium. Freitagabend spricht der Germanist Michael Rohrwasser zum Thema "Freud und die Alma Mater".
->   Das Programm (Med-Uni Wien)
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"Vollkommene Finsternis in den Wiener Gehirnen"
Gleichwohl scheint mit der Entwicklung der Psychoanalyse und den stärker werdenden Widerständen gegen diese eine Verlagerung des Standorts stattzufinden, weg von der medizinischen Fakultät der Universität, hin zu einem außeruniversitären Terrain.

Wittels schreibt, dass die "internationale Ausbreitung" der Psychoanalyse ihn "über die vollkommene Finsternis in den Wiener Gehirnen" getröstet habe.

Es ist sicherlich kennzeichnend, dass der erste Lehrstuhl für Psychoanalyse nicht in Wien, sondern in Budapest etabliert wurde, und zwar gerade einige unruhige Wochen lang in der Zeit der ungarischen Räterepublik; besetzt wurde er von Ferenczi.
Mittwoch-Gesellschaft war Freuds "Institut"
Freuds Interesse und Energie zielte auch in späteren Jahren nicht dahin, ein Wiener Institut zu gründen, er überließ dies seinen Berliner Schülern. Freuds Wiener Institut, das waren seine B'nai Brith-Loge und die Mittwoch-Gesellschaft.

Die ehrwürdige Wiener alma mater, so kann man rekapitulieren, hat Freud mit humanistischer Bildung genährt und Vaterfiguren wie Breuer oder Brücke geschenkt, aber sie hat den jungen Gelehrten nicht mit einer bezahlten Professur geehrt.
Alma Mater: Jungfrau Maria
Doch mit der Etablierung der Psychoanalyse bahnt sich eine seltsame Entwicklung an, mit der die Vision einer neuen alma mater erscheinen wird.

"Alma Mater", so hieß in der römischen Antike die Segen spendende Göttermutter; im Mittelalter war mit diesem Titel die Jungfrau Maria bezeichnet. Alma mater als die nährende Gottesmutter begegnet uns in der Regel unter dem Titel "Maria lactans".
Spenderin von Wissen und Weisheit

Der Ordensgründer der Zisterzienser, Bernhard von Clairvaux empfängt auf dem berühmten Gemälde von Bartolomé Murillo knieend den beseligenden Milchstrahl.

Marias Milch, so erzählt das Bild, spendet nicht nur Gnade und Gesundung, sondern auch Wissen und Weisheit.

Auf Murillos Gemälde zeigt Bernhards rechter Arm nach vorn, auf die Bibel, um seine Phantasmagorie gleichsam zu autorisieren. Seine Handhaltung legt aber auch nahe, dass die Inspiration, die er empfangen hat, weitergeleitet wird und in seine Schriften einfließt.

Weil ihn Maria mit ihrer Milch genährt hatte, so die Heiligenlegende, sei er zu einem der feinsinnigsten und gedankenreichsten Prediger seiner Zeit geworden.
Faust: Natur nährt Forscher und Dichter
In Goethes Faust-Tragödie sind es nicht Universität und Gottesmutter, die den Gelehrten nähren, sondern die Natur selbst soll dem Forscher und Dichter Nahrung gewähren, und davon berichtet Faust in seinem nächtlichen Monolog:

"Wo fass' ich dich, unendliche Natur?
Euch Brüste, wo? Ihr Quellen alles Lebens,
An denen Himmel und Erde hängt,
Dahin die welke Brust sich drängt -
Ihr quellt, ihr tränkt, und schmacht' ich so vergebens?"
Faust-Nachfahre in der Novelle "Gradiva"

Auch bei den Faust-Nachfahren stoßen wir auf mütterliche Einflussbilder, und damit sind wir wieder bei Freud, der 1907 einen Bestseller der Gegenwart wählt, um an diesem den Reichtum der jungen Wissenschaft zu demonstrieren.

Sein Gradiva-Essay steht am Anfang eines Aufschwungs der psychoanalytischen Theorie, den Freud als Folge der Union der Schulen von Wien und Zürich konstatiert.

In Wilhelm Jensens Novelle Gradiva wird durch den Auftritt einer jungen Frau, Zoë-Gradiva, die einen neuen Begriff von Wissenschaft propagiert, ein junger Gelehrten in die Flucht getrieben. Jensen gibt Norbert Hanold Züge eines Faust, wenn er ihn zur Osterzeit als Unterweltgänger und Schatzsucher aus seiner Studierstube gen Italien aufbrechen lässt.
Ein sehr lebendiges Gespenst
Hanold sieht nicht mehr die nährenden Brüste der alma mater. Die Altertumswissenschaft ist ihm zu einer alten, eingetrockneten, langweiligen Tante geworden: "das ledernste und überflüssigste Geschöpf auf der Welt".

Stattdessen denkt er in Italien an die körperliche Beschaffenheit eines Mittagsgespenstes, das ihm in Pompeji erschienen ist.

Er wendet sich von seiner alten Wissenschaft ab und ganz diesem Gespenst zu, das sich am Ende als liebenswert und lebendig entpuppt: Es ist die Professorentochter von nebenan, womit auch die künftige wissenschaftliche Arbeit des jungen Mannes gewährleistet scheint.
Freuds Genossen - die Dichter
Freud beginnt seine Interpretation mit dem Bild vom Kreis von um ihn gescharten Männern (die Mittwoch-Gesellschaft), bei denen eines Tages die Neugierde erwacht, die Theorie der Traumdeutung in der schönen Literatur zu überprüfen.

Dabei greift er zur Paraphrase eines seiner Lieblingszitate: "Wertvolle Bundesgenossen sind aber die Dichter, und ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pflegen eine Menge von Dingen zwischen Himmel und Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen lässt".
Lebendige Psychoanalyse als neue Wissenschaft
Jensen setzt dem Wissenschaftler das Leben (Zoë) entgegen, während Freud eine komplexere Konstellation aufbaut. Er setzt eingangs der traditionellen Universitäts-Wissenschaft - hinter der "Schulweisheit" verbirgt sich die zeitgenössische Psychiatrie - eine neue Wissenschaft entgegen, die Psychoanalyse, die zwar noch einsam steht, aber mit den "Alten", dem abergläubischen Volk, im Bunde ist, und deren wertvolle Bundesgenossen die Dichter sind.

In Freuds Interpretation wird Zoë zur Botschafterin der "neuen Wissenschaft". Gradiva verwandelt sich mit Freuds Interpretation in eine psychoanalytische Leitfigur und Schutzpatronin.

Damit gewinnt Freuds Wissenschaftsbild deutlichere Umrisse: Hier wird die Frau, die die verstaubte Wissenschaft zu destruieren vermag, selbstgewiss in die eigene Mitte aufgenommen. Die 'alte Wissenschaft' erleidet Schiffbruch, während Freuds neue Wissenschaft sich anheischig macht, Frau und Wissenschaft zu vereinen.
Neue "alma mater", neue Inspirationsquelle
Man mag sich hier daran erinnern, dass an der Wiener Universität sich die Frauen erst 1897 Zugang zur philosophischen Fakultät verschafft und 1900 auch zur medizinischen. Im Jahr 1910, also drei Jahre nach der Gradiva-Schrift, wurden Frauen mit Freuds Unterstützung, aber gegen den Widerstand einiger Teilnehmer, auch zum Kreis der Mittwoch-Männer zugelassen.

Diese neue Wissenschaft aber, zu deren Gallionsfigur Zoe geworden ist, nährt nunmehr die Künstler - so wird seit der Etablierung der Psychoanalyse erzählt.

Als eine neue, Inspiration spendende alma mater erscheint sie schließlich in der Wiener Kulturlandschaft, und ihre Inspiration dringt auch noch in die Studierstuben der Literaturwissenschaftler.

[24.3.06]
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Über den Autor
Michael Rohrwasser ist Professor für Neue deutsche Literatur an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Er ist u.a. Autor von "Freuds Lektüren. Von Arthur Conan Doyle bis zu Arthur Schnitzler", erschienen 2005 im Psychosozial-Verlag.
->   Michael Rohrwasser (Uni Wien)
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01.01.2010