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Neues Buch untersucht Völkermord im 20. Jahrhundert  
  Genozide gelten als die schrecklichsten Verbrechen der Menschheit. Was genau unter "Völkermord" zu verstehen ist und was ihn von anderen Formen der Verfolgung und staatlichen Massengewalt unterscheidet, untersucht ein neues Buch des deutschen Historikers Boris Barth.  
Versuch einer kritischen Analyse
Keine historischen Ereignisse erregen noch nachträglich so viel Abscheu und auch nationale und politische Emotionen wie die Völkermorde und anderen Formen staatlicher Massengewalt. Auch ihre Beurteilungen und Einordnungen durch Wissenschaftler bieten oft Zündstoff.

Das gilt besonders für das in der Menschheitsgeschichte relativ neue Verbrechen des Völkermords. Das zeigte sich unlängst in Deutschland konkret bei der Erinnerung an das brutale deutsche Vorgehen gegen die Herero in Südwestafrika vor hundert Jahren, dessen Einschätzung sehr unterschiedlich ist.
Vergleichende Genozidforschung steht noch am Anfang
"Das neue Fach der vergleichenden Genozidforschung steckt noch in den Kinderschuhen", schreibt der Historiker Boris Barth (Universität Konstanz) in seinem jetzt vorgelegten Buch "Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen".

Häufig werde nicht wirklich verglichen, sondern würden einzelne Fälle mit Genozidverdacht nur nebeneinander gestellt. "Vor allem in Deutschland stößt vergleichende Genozidforschung auf den grundsätzlichen Verdacht, dass die Einzigartigkeit des Mordes an den europäischen Juden angezweifelt werden soll".

Der Autor verweist auch darauf, dass die wissenschaftliche Diskussion häufig von politischen Interessen bestimmt werde.
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Boris Barths Buch "Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen" ist 2006 im Verlag C.H. Beck erschienen.
->   Das Buch bei C.H.Beck
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Viele ethische, juristische und historische Fragen ungeklärt
Die kontroverse Diskussion in der Literatur hängt auch damit zusammen, dass das Verbrechen des Genozids viele bislang nur zum Teil geklärte ethische, juristische und historische Fragen aufwirft, wie Barth konstatiert.

"Wissenschaftler vieler Disziplinen bemühen sich darum, eine exakte Begrifflichkeit zu erarbeiten." Auch aus der Genozid-Definition der UN-Konvention von 1948 ergeben sich Anwendungsprobleme. Dennoch orientiert sich Barth in seiner Untersuchung an ihr, denn er hält sie für die relativ präziseste Definition. Und sie ist zudem im Völkerrecht akzeptiert.
Fälle von "eindeutigem Völkermord" und "Genozidverdacht"
Davon ausgehend teilt er seine Darstellung von Fällen in "eindeutigen Völkermord" und "Genozidverdacht". Ersteres Kapitel gilt dem Mord an den Armeniern in der Türkei 1915/16, den nationalsozialistischen Genoziden und Ruanda 1994.

Das andere widmet sich den Verbrechen des stalinistischen Regimes und denen der Khmer Rouge in Kambodscha, den Massakern in Indonesien Mitte der sechziger Jahre und nach der indonesischen Invasion Ost-Timors Mitte der siebziger Jahre, den chinesischen Gewaltaktionen in Tibet 1959/60, den Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien in den neunziger Jahren und dem Feldzug der deutschen Kolonialarmee gegen die Herero.
Deutsche gegen die Herero: Erster Genozid des 20. Jahrhunderts...
In Deutschland haben vor allem die Forschungen des Historikers Jürgen Zimmerer (seit einiger Zeit an der Universität Coimbra, Portugal) über diesen Feldzug Aufmerksamkeit gefunden. Da gelang der deutschen Armee "die traurige Leistung, den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts und zugleich der deutschen Geschichte verübt zu haben", heißt es bei ihm.

Als erster entwickelte der DDR-Historiker Horst Drechsler 1966 unter Auswertung der entsprechenden Akten des ehemaligen Reichkolonialamts die Genozidthese.
... oder "ethnische Säuberung"?
Nach Barths Auffassung spricht gegen sie, dass die berüchtigte Proklamation des Oberbefehlshabers, General Lothar von Trotha, zum Vorgehen gegen die Herero auch als "Aufforderung zu drastischen ethnischen Säuberungen" gelesen werden kann.

"Betrachtet man die Schießbefehle genauer, so stellt man fest, dass es Trotha primär nicht darum ging, alle Herero zu töten, sondern sie durch extreme Gewaltanwendung aus der Kolonie zu vertreiben und die Stammesstruktur zu zerstören."

Die Vernichtungsintention sei nicht bis zur letzten Konsequenz durchgeführt worden, weil Trothas Vorgehen auf politischen Widerstand stieß, heißt es weiter bei Barth.

Er wendet sich auch gegen die Versuche, eine direkte Kontinuität zu den späteren nationalsozialistischen Morden herzustellen. Erinnerungen an den Vernichtungskrieg in Deutsch-Südwestafrika hätten "für die Formierung von spezifischen Feindbildstereotypen oder genozidale Phatasien" später in Deutschland keine Rolle gespielt.
->   Vor 100 Jahren: Maji-Maji-Krieg in "Deutsch-Ostafrika"
Vergleichende Untersuchungen fehlen
In der Diskussion um den Krieg gegen die Herero vermisst der Historiker die "komparativen Paradigma": Bis heute existieren keine vergleichenden Untersuchungen zur Eskalation von Gewalt in kolonialen Guerillakriegen, schreibt er.

"Ein Paradigma, mit dem der deutsche Vernichtungskrieg in Südwestafrika verglichen werden kann, wäre nicht der Holocaust, sondern der französische Krieg in Algerien seit 1830 gegen Abd-El Kadr, der zu einem ungewöhnlich brutalen Partisanenkrieg eskalierte" - auch gegen Zivilisten und mit der Ermordung von Frauen und Kindern sowie niedergebrannten Dörfern und Ernten.
Barth: Verdrängung der Indianer und Aborigines kein Genozid
Zu den weiter zurückliegenden Vorgängen, auf die der Autor verweist, gehören die Verdrängung der Indianer aus den größten Teilen Nordamerikas zwischen 1630 und 1880 und die Dezimierung der Aborigines im Zuge der Besiedlung Australiens durch die Briten im 19. Jahrhundert.

Wissenschaftler haben beide teilweise mit dem Holocaust verglichen. Für Barth scheinen sie nicht die Charakteristika des Genozids zu haben.

Rudolf Grimm, dpa, 29.3.06.
->   Boris Barth, Universität Konstanz
->   Mehr zum Thema "Völkermord" auf science.ORF.at:
 
 
 
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01.01.2010