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Die vergessene Kulturkritik der Psychoanalyse  
  An den deutschsprachigen Universitäten fristet die Psychoanalyse ein kärgliches Dasein. Wenn überhaupt, dann werden heutzutage ihre therapeutischen Wirkungen beachtet, meint der Erziehungswissenschaftler Josef-Christian Aigner in einem Gastbeitrag. Dabei sollte man im Freud-Jahr 2006 gerade die Gesellschafts- und Kulturkritik der Psychoanalyse nicht vergessen.  
Das Ich und die Vielen
Von Josef-Christian Aigner

1910 schrieb Sigmund Freud in "Die zukünftigen Chancen der psychoanalytischen Therapie":

"Die Gesellschaft wird sich nicht beeilen, uns Autorität einzuräumen. Sie muss sich im Widerstande gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, dass sie an der Verursachung der Neurosen selbst einen großen Anteil hat [...]...so kann auch die Gesellschaft die rücksichtslose Bloßlegung ihrer Schäden und Unzulänglichkeiten nicht mit sympathischem Entgegenkommen beantworten ..."
Einseitiger "Medicozentrismus"
Die zitierte Stelle belegt, dass dem Begründer der Psychoanalyse die Brisanz seiner Entdeckungen sehr wohl bewusst war. Die Frage, die sich speziell im Jahr 2006, in dem Freuds 150. Geburtstag auch vom offiziellen Österreich zumindest halblaut gefeiert wird, stellt, ist aber, um welche "unerwünschten Wahrheiten" es sich handelt und wie damit bis heute herauf umgegangen wird.

Von der Psychoanalyse bis heute offiziell anerkannt ist hauptsächlich jener Bereich, den wir unter dem kritischen Begriff des "Medicozentrismus" fassen können, nämlich ihre therapeutische Anwendung.

Ihre Anhänger sind - böse gesagt - dann gute Psychoanalytiker und -innen, wenn sie hinter der Couch ihrem sprichwörtlichen Schweigen nachgehen.
Erst ein einziger Lehrstuhl - vor 25 Jahren
Gegen die ist wenig einzuwenden! Schwieriger wird es für die Psychoanalyse - interessanterweise besonders in Österreich - schon, wenn sie etwa im Bereich der akademischen Psychologie, zu der sie vom historischen und fachlichen Gesichtspunkt her unzweifelhaft gehört, eine prominente Position beansprucht.

Und so hatte außer dem zwischen 1971 und 1981 an der Universität Salzburg lehrenden Igor Alexander Caruso (1914-1981) in Österreich noch nie jemand einen ausdrücklich der Psychoanalyse gewidmeten Lehrstuhl - auch Freud nicht, der nur eine Art außerordentliche Professur innehatte.
Unis heute psychoanalysebereinigt
Und als Caruso 1981 starb, wurde trotz gegenteiliger Beteuerungen der damaligen Ministerin Hertha Firnberg von der "internationalen Bedeutung" seiner Nachfolge schließlich ein erklärter Gegner der Psychoanalyse berufen.

Eine Panne? Wohl kaum, denn für die meisten universitären Psychokraten ist die Psychoanalyse (die sie kaum kennen!) schlichtweg unwissenschaftlich, sodass ungeachtet dessen, dass wohl kaum jemals ein Seelenforscher derart befruchtende interdisziplinäre Debatten ausgelöst hat, unsere Universitäten mittlerweile - auch in Deutschland - weitgehend psychoanalysebereinigt sind.
...
Der Beitrag von Josef Christian Aigner ist in "Kosmos Österreich" (16/2006), der Zeitschrift des Österreichischen Kulturforum Berlin, erschienen.
->   Kosmos Österreich (pdf-Datei)
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Neurowissenschaften bestätigen Erkenntnisse
Ganz im Gegensatz zu diesen etwas schlichten Vorwürfen stehen übrigens die neuesten Erkenntnisse verschiedenster Neuro-Wissenschaften, die immer wieder bemerkenswerte Bestätigungen verschiedenster Hypothesen Freuds z.B. im Bereich der Gedächtnis- und Traumforschung liefern.

Nun hatte Freud selbst die Anwendung der Psychoanalyse als Therapie immer nur als einen, aber nicht deren wichtigsten Gebrauch bezeichnet.
Gesellschaftliche Dimension: Für Freud wichtig ...
Viel wichtiger erschien ihm dagegen einerseits ihre Anwendung auf die Erziehung kommender Generationen, andererseits die Suche nach der Wahrheit über das brisante Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Kultur, zwischen Triebwesen und Gesellschaft.

Hier entstehen natürlich jede Menge gesellschafts- und kulturkritischer Reibungsflächen: Wie repressiv ist eine Gesellschaft im Umgang mit Triebverzichtsforderungen, wie verteilt sie den gesellschaftlichen Reichtum, welche Möglichkeiten der "Sublimierung" in Kunst und Kultur gesteht sie unterschiedlichen sozialen Klassen zu?
... mittlerweile eingeschlafen
Damit befassen sich allerdings weder die Agenten des fast alljährlich stattfindenden medialen Freud-bashings noch - so muss man leider feststellen - eine nennenswerte Zahl von VertreterInnen der Psychoanalyse selbst.

Im Umfeld der 68-er Bewegung einige Jahre aufgeflackert, ist diese Dimension psychoanalytischen Denkens mittlerweile hinter den Couchen entschlafen wie mancher sprichwörtliche Analytiker.
Gesellschaft heute führt zu Destruktion
Ganz anders der Meister selbst: In "Die Zukunft einer Illusion" (1927) stellte er unmissverständlich klar, was den politisch Verantwortlichen auch heute noch nicht schmecken dürfte: dass nämlich eine Kultur, die derartige Unterschiede in der Verteilung ihrer Güter und damit im Ausmaß des Triebverzichts perpetuiert, "weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient".

Wo also eine Minderheit, "die es verstanden hat, sich in den Besitz von Macht und Zwangsmitteln zu setzen", der Mehrheit die Existenzbedingungen aufzwingt, dort kommt es unweigerlich zu Aggressivität und Destruktion.
"Glück im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen"
Auch die Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" (1930), in der Freud der unbequemen Frage nachgeht, warum der Mensch trotz allen Fortschritts nicht glücklich sein kann, ist von einer derart erdrückenden Aktualität, dass es gut täte, sich wenigstens im Jubeljahr darauf zu besinnen:

Da ist in scharfer Kritik am technischen Fortschritt z.B. vom "Prothesengott" die Rede, zu dem der Mensch sich gemausert hätte, um sich Macht über die Natur zu verschaffen, und es doch nicht schafft; von der Hybris, möglichst alles Leiden aus dem Leben zu verbannen, und dadurch erst recht zu leiden; kurzum: "Die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen!"
Dünne Decke der Zivilisation
Oder die Schriften über Krieg und Gewalt, in denen Freud - u.a. in einem Briefwechsel mit Albert Einstein - der Frage nachgeht, wie dünn die zivilisatorische Decke von Friedfertigkeit und Sittsamkeit eigentlich sei und im Angesicht der Gräuel des 1. Weltkriegs schlussendlich zu dem für die Kulturmenschen wenig schmeichelhaften Schluss gelangt:

"In Wirklichkeit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir's von ihnen glaubten." (Zeitgemäßes über Krieg und Tod, 1915). Das sitzt! Und so einen sollen wir feiern?
Blick auf Gegenwart fehlt
Wo kommen wir denn hin, wenn wir diesen kritischen Blick auch auf heutige Erscheinungen werfen, etwa auf den immer noch ungebremsten selbstzerstörerischen Fortschrittsdünkel der Industrienationen, gegen die der Freud'sche "Prothesengott" von 1930 ein Zwergerldasein führte!?

Oder auf die wachsende Schere zwischen Arm und Reich, national wie global, die Freud zufolge ein enormes, weltweites Destruktionspotential birgt? Oder auf die kriegerischen Beglückungsfeldzüge der Weltmacht Nummer 1 und deren sich dadurch entlarvenden zivilisatorischen Hoch- oder Tiefstand?
Nicht auf therapeutische Aspekte reduzieren
All das sind Themen, die Freud und seine Lehre mit einem Schlag wieder hoch aktuell erscheinen ließen. Diese Aktualität resultiert somit daraus, ob und wie wir die Psychoanalyse auf das Heute anwenden.

Das offiziell begangene 150. Geburtsjahr Sigmund Freuds sollte tunlichst auf dieses genuine Anliegen der Freud'schen Botschaft Bedacht nehmen - es ist sowohl vom Werkverständnis her als auch für das Nachdenken über die sozialen Probleme der Gegenwart zu wichtig, um erneut hinter den klinisch-therapeutischen Akzenten psychoanalytischen Wirkens zu verblassen.

Freud selbst jedenfalls hätte einer einseitig therapeutischen Würdigung seines Werkes sicher nie zugestimmt.

[31.3.06]
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Über den Autor
Josef Christian Aigner ist Ao. Univ.-Prof. am Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Innsbruck.
->   Josef-Christian Aigner
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->   Freud-Jahr 2006 in Radio Österreich 1
Mehr zum Freud-Jahr 2006 in science.ORF.at:
->   Michael Rohrwasser. Schwieriges Verhältnis - Freud und die Universität (24.3.06)
->   Sabine Götz: Psychoanalyse - Der Weg zum Sprechen über Sexualität (10.3.06)
->   Franz Seifert: Psychoanalyse - Persönliche Fußnote und Buchtipp (20.2.06)
->   Monika Huber: Anna O. - das A und O der Psychoanalyse? (20.1.06)
->   Christine Diercks: Die Bedeutung der Psychoanalyse heute (18.1.06)
->   Andre Gingrich: Freud - Zwischen Respekt und Skepsis (9.1.06)
 
 
 
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01.01.2010