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Starphilosophen untersuchen "Zukunft der Religion"  
  Friedrich Nietzsches Ruf nach dem Tod Gottes ist lange verhallt, zahlreiche antimetaphysische Denkströmungen haben den Religionen seither nicht allzu viel anhaben können. Doch gehört ihnen die Zukunft? Und kann eine Religion ohne Gott überhaupt auskommen? Wohin hat sich die religiöse Erfahrung im dritten Jahrtausend verschoben?  
Zwei Philosophen haben sich in einem schmalen Buch der "Zukunft der Religion" gewidmet: der US-Paradedenker des Pragmatismus, Richard Rorty, und sein italienischer Kollege Gianni Vattimo.
Gespräch in Paris
Die beiden philosophierenden Freunde trafen sich unter der Regie des Herausgebers - Santiago Zabala - im Dezember 2002 in Paris zu einem Gespräch, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt.

Ergänzt wird der Band durch Rortys Dankesrede zur Verleihung des Meister-Eckhart-Preises 2001 und Vattimos Überlegungen zum Zeitalter der Interpretation von 2003.
Wie Religion der Metaphysikkritik widerstand
Rorty wie Vattimo stehen zunächst als ausgewiesene Metaphysikverächter nicht in Verdacht, der Religiosität das Wort zu reden und so klammern sie auch alle Wahrheitsfragen entschlossen aus.

Wieso die Metaphysikkritik bisher nicht zum Verschwinden der Religion geführt hat, sehen sie vielmehr gerade darin begründet, dass erst die Überwindung absoluten Denkens das Christentum zu sich selbst geführt hat: zur Botschaft der Liebe, zum Credo für alles Schwache.
Solidarität, Nächstenliebe und Ironie
Erst ein schwacher Begriff der Vernunft ist ihrer Ansicht nach mit der Botschaft des Evangeliums vereinbar. Statt um Wahrheit geht es um Solidarität, Nächstenliebe und Ironie.

So sieht in den Augen der beiden Philosophen die Säkularisierung aus - sie ist eine Geschichte des so genannten "schwachen Denkens", in der Fragen wie nach der Existenz Gottes sinnlos sind.

Auf diese Weise verwandelt sich die Religion in eine antidogmatische Lehre, die die Grundlage der Demokratie bildet. Das Fortbestehen der Religion - also ihre Zukunft - verdankt sich ihrer Säkularisierung.
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Richard Rorty, Gianni Vattimo: "Die Zukunft der Religion", Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 114 Seiten
->   Mehr über das Buch (Suhrkamp Verlag)
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Irgendetwas muss man glauben
Nach Rorty muss man irgendetwas glauben, um sich selbst erschaffen zu können. Auf eine Legitimierung dieser sich allein auf private Motive stützenden Religion verzichtet er zur Gänze. Er bezeichnet sich selbst als "laizistischen Antiklerikalen".

Vattimo wiederum - ein bekennender Katholik - unternimmt eine eigenwillige Verknüpfung des "schwachen Denkens" mit dem christologischen Konzepts der "Kenose", wonach Jesus bei der Menschwerdung auf die Ausübung seiner göttlichen Eigenschaften verzichtet habe:

Die Menschwerdung Gottes ist demnach eine radikale Schwächung seiner Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart.
"Schrittmacher für ein Reich der Liebe"
Vielen Rezensenten ist diese Postulat des "schwachen Denkens" - angewandt auf die Religion - und seine Konsequenzen zu schlicht. "Im Rahmen dieser religiösen Fortschrittsgeschichte empfehlen sich Rorty und Vattimo als die eigentlich katholische Verschärfung, insofern ja Paulus gesagt habe: Wenn ich schwach bin, bin ich stark.

Beide Philosophen beanspruchen eine Art abgeschwächte Messiasfunktion, wenn sie sich als hermeneutisch-pragmatistische Schrittmacher für ein Reich der Liebe präsentieren, das Rorty schließlich zu folgendem Hymnus der Liebe inspiriert: 'Mein Gefühl für das Heilige, soweit ich eines habe, ist an die Hoffnung geknüpft, dass eines Tages, vielleicht schon in diesem oder im nächsten Jahrtausend, meine fernen Nachfahren in einer globalen Zivilisation leben werden, in der Liebe so ziemlich das einzige Gesetz ist.

In einer solchen Gesellschaft wäre die Kommunikation herrschaftsfrei, Klassen und Kasten wären unbekannt, Hierarchien zweckmäßige Einrichtungen auf Zeit, und Macht läge allein in der Verfügungsgewalt einer frei übereinkommenden, belesenen und gebildeten Wählerschaft'", schreibt Christian Geyer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
"Soziologisch zu schlicht"
Das "Gadamersche Gespräch" zwischen den Philosophen endet in trauter Einmütigkeit, konstatierte Hauke Brunkhorst unlängst in der "Zeit".

Rortys Plädoyer für die Abschaffung der Kirchen ist dem Rezensenten zwar nicht unplausibel, doch die Vision eines demokratischen Weltstaats erscheint ihm "soziologisch doch etwas zu schlicht".
Seitenhieb auf Freud?
Manfred Geier fragte sich in der "Süddeutschen Zeitung" angesichts des Buchtitels, ob es sich dabei um eine ironische Anspielung auf Freuds "Die Zukunft einer Illusion" handelt, der darin dafür plädiert, sich endlich vom Glauben an eine "göttliche Liebe oder Macht" zu befreien.

Denn beide Philosophen wollen offensichtlich nicht auf ein "religiöses Vertrauen" beziehungsweise die von Freud kritisierte "infantile Illusion" verzichten", stellt der Rezensent fest:

"Jedenfalls ist bemerkenswert, wie genau sie Freuds Vorwurf entsprechen, Rückzugsgefechte für eine Position zu führen, die philosophisch schwächelt und sich in nichts aufzulösen scheint", lautet Geiers wenig schmeichelhaftes Urteil.
"Kein Dialog mit dem Islam"
An einer Stelle besonders legt Geier den Finger auf die Wunde: Wo die beiden Philosophen "nur einmal" während ihres Gesprächs ins Stocken geraten - ausgerechnet, wenn das Gespräch auf den Islam kommt.

Hier ist mit dem "Wir" und der "religiösen Inspirationskraft der Liebe", auf die sich Rorty und Vattimo bis dahin verständigt hatten, "plötzlich Schluss", denn keiner der beiden kann sich einen "Dialog" mit dem Islam vorstellen.

Geiers lakonischer Schluss: Da hat sich dann wohl doch "Freuds Realitätsprinzip" ins Bewusstsein gedrängt.

Doris Felkl, ORF.at, 5.4.06
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Richard Rorty, geboren 1931, ist Philosoph und lehrt Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Stanford (Wikipedia-Eintrag zu Rorty)
Gianni Vattimo, geboren 1936, lehrt als Professor für theoretische Philosophie an der Universität Turin (Wikipedia-Eintrag zu Vattimo)
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01.01.2010