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Selbstvergessenheit: Wenn das Gehirn sein Ich verliert  
  Sei es beim Lesen von Büchern, beim Sport oder bei der Meditation: Den Zustand der Selbstvergessenheit kennt jeder aus eigener Erfahrung. Israelische Neurowissenschaftler haben nun erstmals sichtbar gemacht, wie das Gehirn vorübergehend das Ich ausblendet.  
Wie ein Team um Rafael Malach vom Weizmann Institute of Science berichtet, wird im Zustand der Selbstvergessenheit offenbar ein Netzwerk im präfrontalen Cortex gezielt unterdrückt.
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Die Studie "When the Brain Loses Its Self: Prefrontal
Inactivation during Sensorimotor Processing" erschien in "Neuron" (Band 50, S.329-39, doi: 10.1016/j.neuron.2006.03.015).
->   Abstract
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Wahrnehmung als Abbildung?
Ist visuelle Wahrnehmung eine Abbildung der Außenwelt, gewissermaßen Kino im Kopf? Nachdem das menschliche Auge nach dem Kameraprinzip funktioniert, ist diese Annahme nicht ganz abwegig.

Leonardo da Vinci glaubte beispielsweise, dass Wahrnehmung einfach dadurch entsteht, indem das Netzhautbild wie auf eine Leinwand ins Gehirn projiziert wird, wobei er als Leinwand die Wände der Ventrikel vorsah.

Mit den Ventrikeln tippte da Vinci daneben, wie man heute weiß, da visuelle Wahrnehmung in der Rinde des Hinterhauptscortex entsteht - dennoch wäre denkbar, dass seine Hypothese dem Prinzip nach zutrifft.
Homunculus und unendlicher Regress
Sie hat nur einen Schönheitsfehler. Da Abbildungen ohne Betrachter keinen Sinn machen, muss man folgerichtig auch eine Instanz im Gehirn annehmen, die das projizierte Bild betrachtet. Allerdings ist "Betrachten" ein anderes Wort für "Wahrnehmen", womit sich das Problem von neuem stellt.

Wenn diese Instanz, die häufig als Homunculus bezeichnet wird, wieder eine Art Kino im Kopf erlebt, geht der Reigen ohne Ende weiter: Bild - Homunculus - Bild - Homunculus - ad infinitum. "Unendlicher Regress" nennen das Philosophen, wenn sich ein Argument fortwährend im Kreis dreht, und man muss kein Logiker sein um zu sehen, dass das kein Kompliment ist.
->   Homunculus - Wikipedia
Ein Wächter vor dem Eingang zum Ich
Der Homunculus hatte daher lange Zeit ein ziemlich schlechtes Image, feierte aber vor einigen Jahren mit Unterstützung der Neurowissenschaftler Francis Crick und Christof Koch ein bemerkenswertes Comeback.

Ihr Konzept geht freilich nicht von einem kleinen Männchen im Gehirn aus, sondern bezieht sich auf neuronale Prozesse in der Großhirnrinde, die sensorische Informationen empfangen und entscheiden, ob sie das Bewusstsein erreichen oder nicht.

Wie die beiden etwa in dem häufig zitierten Aufsatz "The Unconscious Homunculus" betonen, kann man den unendlichen Regress dadurch vermeiden, indem man den Homuculus als eine Art unbewussten Türsteher auffasst, der den Zugang zum Ich überwacht.
Verflüchtigtes Ich: Selbstvergessenheit
Zwar löst auch dieses Konzept nicht die fundamentale Frage, wie aus elektrochemischen Vorgängen in Nervenzellverbänden so etwas wie Bewusstsein entstehen kann, aber es erklärt etwas anderes: die Alltagserfahrung nämlich, dass sich das Ich unter gewissen Bedingungen verflüchtigen kann, obwohl man durchaus wach ist.

"Selbstvergessenheit" ist ein guter Begriff für diesen Zustand, der sich z.B. einstellt, wenn man sich in einen Text oder einen Film vertieft.
Experiment mit zwei Aufgaben
 


Forscher um den israelischen Neurobiologen Rafael Malach haben diese Situation nun im Experiment nachgestellt. Zu diesem Zweck legten sie Testpersonen eine Reihe von Spielkarten vor, die sie dann in zwei separaten Durchläufen mittels Knopfdruck bewerten mussten.

Das eine Mal mussten sie entscheiden, ob es sich bei den präsentierten Motiven um Tiere handelte, beim zweiten Durchgang sollten die Probanden angeben, ob sie die Bilder als emotional berührend empfanden - oder nicht. In beiden Fällen wurden die Vorgänge im Gehirn mittels Magnetresonanztomografie (fMRI) sichtbar gemacht.

Hintergrund des experimentellen Designs: Die Kategorisierung der Bilder sollte die visuelle Wahrnehmung fördern, die emotionale Beurteilung hingegen die Introspektion, also das Bewusstwerden innerer Zustände (Bild oben).
->   fMRI - Wikipedia
Zwei getrennte Gehirnareale aktiv
Malach und Kollegen fanden heraus, dass die Kategorisierung der Bilder den visuellen Cortex anregte, wobei es auch eine schwache Aktivität im so genannten präfrontalen Cortex gab - jener Gehirnbereich, der üblicherweise als "Sitz" des Ich angesehen wird. Diese Region war wie erwartet viel aktiver, wenn die Probanden ihre eigenen Emotionen beurteilen mussten.

Das spricht dafür, dass beide Aufgaben im Gehirn mehr oder weniger getrennt bearbeitet werden. Da Variationen des Experiments mit musikalischen Phrasen zu ganz ähnlichen Ergebnisse führten, sollte dieser zweigleisige Verarbeitungsmodus auch für andere Sinnesmodalitäten gelten.
Neurowissenschaft trifft Zen-Buddhismus
Spannend wurde es indes, als die Forscher die Kategorisierungs-Aufgabe mit einer deutlich erhöhten Frequenz der dargebotenen Bilder und Phrasen wiederholten: In dieser Situation waren die Probanden offenbar derart von der gestellten Aufgabe gefordert, dass sie ihr eigenes Ich ausblendeten. Das machte sich in den Gehirnbildern durch eine Hemmung des präfrontalen Cortex bemerkbar und belegt dabei im Wesentlichen, was man bereits aus der Alltagserfahrung kennt.

Malach und Mitarbeiter ziehen daraus folgenden Schluss: Zwischen dem Ich und der bewussten Sinneswahrnehmung dürfte es eine Art Konkurrenzverhältnis geben, wobei das Ich bei besonders intensiven Aufgaben quasi abgeschaltet werden kann.

Dieser Deutung fügen die israelischen Forscher noch eine zweite hinzu: Vermutlich haben man nun das neurobiologische Korrelat jenes Vorgangs gefunden, der schon seit jeher eine zentrale Rolle im Zen-Buddhismus spielt, schreiben Malach und Kollegen - und untermauern das mit einem Zitat von Daisetz Teitaro Suzuki: "Leben ist Kunst, und wie jede vollendete Kunst sollte auch das Leben selbstvergessen sein."

Robert Czepel, science.ORF.at, 25.4.06
->   Zen - Wikipedia
->   Website von Rafael Malach
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01.01.2010