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Innovation unter "unsicheren Bedingungen"  
  Nicht nur, aber auch in den Kulturwissenschaften schwinden alte akademische Sicherheiten: einerseits was die Berufslaufbahn und den institutionellen Rahmen, andererseits was den Kanon der Methoden betrifft. Wie es unter "unsicheren Bedingungen" dennoch zu innovativer Forschung kommen kann, das fragt eine Tagung am IFK in Wien. Die Organisatoren, der Historiker Mitchell Ash und die Romanistin Birgit Wagner, fassen die Ideen der Tagung in einem Gastbeitrag zusammen.  
"No Guarantees" - Kulturwissenschaft heute

von Mitchell G. Ash mit Birgit Wagner

Gerade protestierten Hunderttausende junge Menschen in Frankreich gegen das, was sie selbst eine "Prekarisierung" der Arbeitsbedingungen für Berufseinsteiger nannten. Sie hatten Erfolg - der entsprechende Gesetzesentwurf wurde zurückgezogen, die Regierung blamiert.

Ob dieser nur ein Etappensieg war, wird aber noch zu sehen sein. Denn seit langem schon ist ein Abbau gesicherter Arbeitsplätze in Europa - und nicht nur dort - zu beobachten. Dies gilt erst recht im Bereich der intellektuellen Arbeit, vor allem im universitären und außeruniversitären Bereich.

Am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien diskutieren Experten aus mehreren europäischen Ländern mit jungen Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftlern bei einer Tagung gemeinsam über die Möglichkeiten - und auch die Grenzen - innovativer Forschung unter diesen neuen Bedingungen.
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Tagung am IFK
Die Tagung "No Guarantees. Innovative kulturwissenschaftliche Forschung unter unsicheren Bedingungen" findet von 27. bis 29. April 2006 am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften statt.
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über die Veranstaltung (IFK)
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Keine Garantien für Forschungsgelingen ...
Der Titel der Tagung "No Guarantees" ist die bewusste Übernahme einer Formulierung, die vom englischen Kulturtheoretiker Stuart Hall mehrfach verwendet wurde. Damit sollen zwei verschiedene, doch keineswegs zusammenhanglose Konditionen kulturwissenschaftlicher Forschung thematisiert werden:

Erstens: Es gibt keine fixe, kanonisierten Methoden und damit keine Garantien für das Gelingen transdisziplinärer kulturwissenschaftlicher Forschung. Diese Art Forschung, wenn sie innovativ sein will, bewegt sich im Risikobereich des Unerprobten, daher auch des vielfach Kritikwürdigen.
... und für berufliche Karriere
Und zweitens: Es gibt keine beruflichen Garantien, zumal für die jüngeren Forscher und Forscherinnen, die sich in diesem Feld bewegen und sich durch diese Wahl quer oder auch am Rande der etablierten akademischen Disziplinen situieren.

Es kommt schon vor, dass sie ihre Erfolgschancen dadurch steigern können, oft aber minimieren sie diese auch.
"Prekarisierung" intellektueller Arbeit
Die "Prekarisierung" intellektueller Arbeit ist aber keinesfalls nur in den Kulturwissenschaften gegeben.

Seit längerer Zeit wurde nämlich seitens der Wissenschaftsforschung ("science studies") ein Strukturwandel der Forschung auch in den Natur- und Technikwissenschaften sowie in der Medizin ausgemacht.
Unis nicht mehr Zentren der Grundlagenforschung
In aller Kürze können zwei der zentralen Entwicklungen benannt werden:

Erstens ist das hierarchisch strukturierte Universitätsinstitut nicht mehr das privilegierte Zentrum der so genannten Grundlagenforschung. Vielmehr wird die Forschungsarbeit über ein vielschichtiges Netzwerk universitärer und außeruniversitärer Einrichtungen verteilt.

Von diesen Forschungseinrichtungen haben einige längerfristigen Bestand, während andere durch die ständige Organisierung neuer Projekte ihre Existenz sichern und wieder andere vielleicht sogar nur für die Dauer eines einzigen Vorhabens überhaupt da sind oder sein sollen.
Normalfall Interdisziplinarität
Zweitens werden Forschungsprobleme nicht mehr nur allein an den Universitätsinstituten einzeldisziplinär abgearbeitet und fertige Problemlösungen und Problemlösungsverfahren erst danach außerhalb der Universitäten zur Anwendung gebracht.

Vielmehr ist es immer häufiger zum Normalfall geworden, dass Probleme der vermeintlich zweckfreien oder der anwendungsbezogenen Grundlagenforschung von vorn herein interdisziplinär konzipiert und in komplexer Zusammenarbeit zwischen Universitäten oder staatlich getragenen Forschungsinstituten und wirtschaftlich bzw. zivilgesellschaftlich getragenen Stellen gelöst werden.
Netzwerke keine historische Neuigkeit
Trotz aller Aufregung der Gegenwart über eine angebliche "Privatisierung" akademischer Forschung sind solche problemorientierte Netzwerkbildungen keineswegs neu.

So gab es beispielsweise bereits um 1900 eine kreative Zusammenarbeit zwischen dem großen Biochemiker und Mediziner Paul Ehrlich und der Höchst AG, die über ein eigenständiges außeruniversitäres Institut abgewickelt wurde.

Ohne diese Verbindung wäre Ehrlich wohl kaum der Durchbruch zur Entdeckung der chemischen Zusammensetzung der Blutseren? beim Menschen gelingen, der ihm den Nobelpreis für Medizin bringen sollte.
Beispiele: Wiener Schule und Wiener Kreis
Es darf ohne Nostalgie daran erinnert werden, dass eine vergleichbare Situation der Sozial- und Kulturwissenschaften im Raum Wien bereits um 1900 schon einmal gegeben war.

Zu denken ist dabei etwa an die Sozialwissenschaften, die überhaupt erst außerhalb der Universität um die Wende zum 20. Jahrhundert entstanden sind, an die so genannte "Wiener Schule" der Volkswirtschaftslehre - die trotz des Namens ebenfalls außeruniversitär verankert war -, an den so genannten "Wiener Kreis" in der Philosophie und Wissenschaftstheorie, oder an die Netzwerkverbindungen zwischen Universität und Museen in der Kunstgeschichte, der Ethnologie und der Volkskunde.
Parallelen zwischen den Wissenschaften
Heute scheint sich die strukturelle Situation der kulturwissenschaftlichen Forschung in Österreich überraschend analog oder zumindest auf vergleichbare Weise zu entwickeln, wie in den Natur- und Technikwissenschaften.

Nun gibt es in diesem Bereich eine Vielzahl außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, die befristeten Schwerpunktprogramme des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft und die fast nicht mehr überschaubare Landschaft kurz- und längerfristiger Projekte - Editionen, Dokumentationen, Ausstellungen, historische Filmreihen und vieles mehr.
Innovation kann von "allen Seiten" kommen
So lautet also die erst These der Tagung am IFK: Hören wir endlich auf, allein auf die Universitätsinstitute zu starren und betrachten wir stattdessen diese Einrichtungen, Programme und Projekte als prinzipiell gleichberechtigte Teile eines Netzwerkes der Forschung.

Dann könnten die kulturwissenschaftlichen Innovationen wohl genau so gut von außerhalb als von innerhalb der Universitäten oder sogar von gezielten Kooperationen von beiden "Seiten" kommen.

[28.4.06]
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Über die Autoren
Mitchell Ash ist Professor für neuere Geschichte, Birgit Wagner Professorin der Romanistik, beide an der Universität Wien.
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->   Mitchell Ash
->   Birgit Wagner
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Andrea Ellmaier: Prekäre Aussichten - prekarisierte Forscher (29.4.05)
->   Neue Selbstständigkeit: "Prekariat" verändert die Welt (29.4.05)
->   Franz Seifert über "Les intellos precaires" (9.12.02)
 
 
 
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01.01.2010