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Halfen springende Gene bei der Eroberung des Landes?  
  Die Eroberung des Landes war ohne Zweifel ein Schlüsselereignis in der Naturgeschichte der Wirbeltiere. US-Forscher vermuten nun, dass springende Gene an diesem evolutionären Übergang beteiligt waren.  
Einen Hinweis darauf glauben die Forscher um David Haussler vom Howard Hughes Medical Institute im Erbgut des Quastenflossers Latimeria menadoensis entdeckt zu haben: Das lebende Fossil zeigt noch immer eine erhöhte Aktivität bestimmter mobiler Gensequenzen, die offenbar vor der Entstehung der Landwirbeltiere einsetzte.
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Die Studie "A distal enhancer and an ultraconserved exon are derived from a novel retroposon" von Gill Bejerano et al. erschien in "Nature" (doi:10.1038/nature04696).
->   Zur Studie
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Schnelle und langsame Gene
Wollte man eine Typologie von Genen entwerfen, dann wäre vermutlich ihre Neigung zur Umgestaltung eine interessante Größe: Es gibt nämlich solche, die sich in rasantem Tempo weiterentwickeln und solche, die sich selbst in hunderten Jahrmillionen nicht nennenswert verändern.

Grund dafür ist die ambivalente Natur der Mutationen. Im positiven Fall sind Mutationen ein kreativer Impuls, der neue Merkmale und Anpassungen ermöglicht. Leider ist das die Ausnahme: In der Mehrzahl der Fälle stören Mutationen das funktionelle Gefüge, und gerade deswegen setzen sich Mutanten von überlebenswichtigen Genen nur äußerst selten durch.

Bei den funktionslosen Pseudogenen ist die Mutationsgeschwindigkeit hingegen viel größer - denn wo keine Funktion, da wird auch jede Mutation toleriert.
Konservierte Sequenzen bei Wirbeltieren
Das lässt folgenden Umkehrschluss zu: Findet man eine Gensequenz, die sich über lange Zeiträume nicht geändert hat, dann muss sie wohl eine wichtige Funktion haben. So geschehen etwa im Jahr 2004, als ein Team um David Haussler vom Howard Hughes Medical Institute von neuartigen, 200 Basenpaare langen Sequenzen berichtete, die bei Mensch, Maus und Ratte zu 100 Prozent übereinstimmen (Science, Bd. 304, S. 1321).

Über ihre Funktion konnte man damals noch nichts sagen, aber fand man heraus, dass sie offenbar ziemlich weit verbreitet sind: "Wir interessierten uns sehr für diese Sequenz, weil es viele Kopien davon an anderen Stellen im Erbgut gab" berichtet Hausslers Mitarbeiter Gill Bejerano: "Wir fanden sie bei allen möglichen Wirbeltieren, von Fröschen bis hin zum Menschen."

Und nicht nur dort: Die US-Forscher wurden auch im Erbgut eines lebenden Fossils fündig, dem Quastenflosser Latimeria menadoensis, der als einer der Vorläufer der Landwirbeltiere angesehen wird.
->   Latimeria - Wikipedia
Springende Gene hinterlassen Spuren
Wie Haussler und seine Kollegen in ihrer neuesten Studie schreiben, stammen diese ultrakonservierten Sequenzen offenbar von springenden Genen, so genannten SINE, ab.

Das sind DNA-Stücke, die Kopien ihrer selbst herstellen und willkürlich über das Erbgut verteilen. Da es für diese Molekülklasse noch keinen eigenen Namen gibt, wurden sie von den US-Forscher LF-SINE genannt, wobei das Kürzel "LF" für "lobe finned" und "living fossil" steht.
->   SINE - Wikipedia
Initialzündung für Landnahme?
Soweit wäre das nur eine weiterer Fund für das genetische Kuriositätenkabinett, wenn die Sache nicht auch einen evolutionären Dreh hätte: Haussler und sein Team fanden nämlich heraus, dass die LF-SINE offenbar in jener Stammlinie sehr aktiv waren, die zu den Landwirbeltieren führte, aber an Aktivität einbüßten, sobald diese tatsächlich an Land gingen.

So hat etwa der Mensch lediglich 245 Kopien von LF-SINE in seinem Erbgut, während sie sich beim Quastenflosser über Jahrmillionen munter weiter vervielfältigten. Mit dem Ergebnis, dass das lebende Fossil nun über hundertausende solcher Sequenzen im Erbgut verfügt.

Vielleicht kein Zufall: Die Biologen vermuten, dass der - beim Quastenflosser offenbar beibehaltene - Aktivitätsschub der LF-SINE eine Initialzündung für die Eroberung der Kontinente gewesen sein könnte. Das setzt allerdings voraus, dass sie nicht nur durch das Erbgut gesprungen sind, sondern auch nennenswerte biologische Funktionen übernommen haben.
Neuer Kontext - neue Funktion
Zumindest in einem Fall konnte das tatsächlich nachgewiesen werden. Einige LF-SINE des Menschen fungieren mittlerweile als genetische Schalter, die die Entwicklung des Nervensystems kontrollieren.

Das beweist freilich noch nicht, dass die Landnahme der Wirbeltiere etwas mit den LF-SINE zu tun hat. Aber es zeigt, dass das Prinzip funktioniert: "Wenn man ein Gen in einem neuen Kontext aktiviert", so Bejerano, "dann entsteht oft ein völlig neuartiger Prozess, der unter Umständen die Fitness eines Lebewesens steigert." "Exaptationen" nannte der große Paläontologe Stephen J. Gould diese spielerische Neu-Kontextualisierung vorhandener Merkmale.

Ob Exaptationen eine naturgeschichtliche Besonderheit oder den Regelfall darstellen, ist allerdings noch unklar. Zumindest bei springenden Genen: "Unser Fund weist darauf hin, dass es auf evolutionären Pfaden noch eine Menge Aufregendes zu entdecken gibt", so Haussler: "Wir wissen nur noch nicht, wie verbreitet diese Art von Evolution ist."

Robert Czepel, science.ORF.at, 4.5.06
->   Exaptation - Wikipedia
->   Howard Hughes Medical Institute
 
 
 
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01.01.2010