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Sehen: Diesseits und jenseits des Menschen  
  Wer Augen mit Sehorganen gleichsetzt, legt menschliche Maßstäbe an. Tiere "sehen" die Welt ganz anders, ihre Augen stellen eine andere Beziehung zum Licht her als der Mensch. Dieser Unterschied hat in den vergangenen Jahrhunderten die Phantasie von Biologen, Philosophen und Literaten gleichermaßen angeregt. Die Kulturwissenschaftler Christoph Hoffmann und Peter Berz, derzeit am IFK in Wien, gehen anlässlich eines Vortrags der Frage nach einem Sehen diesseits und jenseits des Menschen nach.  
Andere Augen: Tierisches Sehen, tierische Welten

Die Blüten der Blumen, ihre Formen, Farben und spektakulären Organe sind, so der österreichische Bienenforscher Karl von Frisch, für "andere Augen bestimmt" als die des Menschen.

Sie sollen Insekten verführen, also Wesen, die Pflanzen bestäuben. Aber schon in einer weißen Lilie sehen die Augen von Insekten tausend Mal mehr ultraviolette Farben und Muster als das Linsenauge der Säuger.

"Andere Augen müssen den Menschen, andere Augen die Blume ansehn", dichtet 1956 Ernst Jandl in seinem ersten Buch.
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Vortrag am IFK
Peter Berz und Christoph Hoffmann halten am 8. Mai 2006, 18.00 c.t., am am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen öffentlichen Vortrag mit dem Titel "Andere Augen".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über die Veranstaltung (IFK)
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Sigmund Exners Käferaugen
Bild: IFK
Sieht so ein Käfer
die Schottenkirche?
Ende des 19. Jahrhunderts hatte von Frischs Onkel, der Wiener Physiologe Sigmund Exner, das erste Buch über die Facettenaugen von Insekten geschrieben. Er präparierte ein Käferauge, spannte es vor eine Kamera und photographierte aus dem Fenster des Labors auf die Schottenkirche. Voilà: So sieht ein Käfer die Welt!

Aber hat ein Käfer überhaupt Welt? Sähe er sie überhaupt als Bild, wie es Exners Fotographie schon als Foto nahe legen will?

Am Ende seiner physiologischen Studien, die auf Pixelbilder im Tierreich zulaufen, kommt Exner zu dem Schluss: "Wahrscheinlich sind's nur ein paar huschende, sich bewegende Schatten, die einen Käfer interessieren."
Paul Kammerer und die Augen der Olme
Als einige Jahre später der Entwicklungsbiologe Paul Kammerer einigen Grottenolmen aus der Karsthöhle von Postojna, Slowenien, die seit Tausenden von Jahren blind sind, in einer Dunkelkammer des Vivariums im Prater Augen züchtet, wagt er zunächst gar nicht zu fragen: Welche Welt sehen diese Augen?

Schon der bloße Erfolg, im "kümmeräugigen Finsterolm" (Kammerer) durch Rotlicht ein Lichtorgan zu befreien, ist ein Experiment, das die lamarckistische Frage nach der Umgebung als Triebkraft der Entwicklung auf bis heute skandalöse Weise stellt.

Ob der auf Magnetfelder, Wärme, Licht auf der Haut hypersensible "èovejeæja ribica" (slowenisch für Olm) die "Okulartyrannis" eines zentralen Sehorgans braucht, steht auch für Kammerer sehr dahin.
Parallelwelten: Literarisch ...
Vor allem in k.u.k. Österreich, einer Welt aus Parallelwelten, scheint sich die Lust zu erfinden, andere Welten als tierische Parallelwelten zu denken. Schon Mach fragt, was wir sähen, wenn unsere zwei Augen wie beim Junikäfer einen halben Zentimeter auseinander lägen?

Wie wacht man, fragt Kafka, als Käfer auf? Was sieht ein Pferd, fragt Musil, wenn es einen Frauenmörder im Gefängniswagen über den Ring zieht?
... und biologisch
Diese Lust an tierischen Parallelwelten hat bis heute viele Nachfolger. Wie liebt ein Wesen mit zehn Armen fragt Vilém Flusser in seinem Buch über den Tiefsee-Tintenfisch Vampyrotheutis infernalis? Und Brodskij: Was erinnert ein Hund?

Die moderne Neuobiologie konstruiert, wie etwa Friedrich Barth von der Universität Wien, die Welt einer Spinne als "vibratorische Welt". Sie besteht vor allem aus den Erschütterungen ihres feinen Netzes.
Tierreflexionen auch bei den Philosophen
Aber nicht nur die experimentelle Neugier von Physiologen, Biologen und Schriftstellern, auch die philosophische Reflexion greift die Potentialität tierischer Sehorgane jenseits des Menschen auf.

Sich vorzustellen, "wie das Insekt oder der Vogel eine ganz andere Welt percipieren als der Mensch", wird Nietzsche zur Gelegenheit, Begriffe außerhalb der menschlichen Kondition zu denken.

Die Biene, die Nektar sammelt, artikuliert bei Heidegger die weltarme Seinsart des Tieres im Unterschied zur weltbildenden Seinsart des Menschen.
Raum der Überschreitungen
Und der Psychoanalytiker Jacques Lacan fragt, wo und wie an einem Lichtorgan überhaupt das "Sehen" oder gar der "Blick" erscheinen. "Seit wann, könnte man beispielsweise fragen, gibt es die Funktion dieses Organs, und wann ist es einfach vorhanden in der Reihe der Lebewesen?"

Das Sehen aus dem Raum der Evolution begreifen, dem die Physiologie der Tiere genauso angehört wie die des Menschen - samt seiner Versuche, sich in tierische Parallelwelten zu begeben - heißt, einen Raum der Überschreitungen zu betreten: auf der Leiter der Wesen zurück in andere, nicht menschliche Zeiträume, im Experiment voraus auf ungeahnte Entwicklungen und in einem unmöglichen "Mit-Sein" auf die vertraute Fremdheit zum Tier.

[5.5.06]
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Über die Autoren
Peter Berz, geb. 1959 in Augsburg, Dr. phil, Kulturwissenschaftler und Medientheoretiker, Berlin. Christoph Hoffmann, geb. 1963 in Frankfurt a. M., PD Dr. phil, Wissenschaftshistoriker und Literaturwissenschaftler, Berlin. Zur Zeit sind beide Forscher Gäste des IFK Wien mit einem Forschungsprojekt "Andere Augen. Käfer im Blick. Die Augen der Olme."
->   IFK
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Veranstaltungshinweis
Ein Abend "Spinnen, Bienen, Menschen. Labor über tierische Parallelwelten und poetische Sprache" am 27. Juni in der Alten Schmiede in Wien möchte dem geheimen Austausch von Wissenschaft und Literatur für den Fall der Biologie nachgehen. Mit Peter Berz und Christoph Hoffmann sowie dem Schriftsteller Marcel Beyer und dem Neurobiologen Friedrich Barth.
->   Alte Schmiede
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01.01.2010