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Neurowissenschaft auf der Suche nach "Ich" und "Es"  
  Von der modernen Neurowissenschaft wird erwartet, dass sie auch etwas zur Psychoanalyse zu sagen hat - gerade zum Geburtstag von Sigmund Freud, der sich an diesem Wochenende zum 150. Mal jährt. Gibt es ein Unbewusstes im Sinne Freuds und spielt die Sexualität tatsächlich so eine zentrale Rolle?  
Die Neurowissenschaften gingen bisher prinzipiell anders als Freud und seine Nachfolger an psychische Phänomene heran, schreiben Karen Kaplan-Solms und Mark Solms in ihrem Buch "Neuro-Psychoanalyse", das seit seinem deutschsprachigen Erscheinen 2003 bereits zu einem Klassiker geworden ist.

Laut den beiden britischen Neurowissenschaftlern steht die Gehirnforschung demnach weiterhin oft in der Tradition der alten Neurologie, die ganz bestimmte mentale Funktionen mit ganz bestimmten Arealen im Gehirn - Stichwort "Sprachzentrum" - zu identifizieren versucht; ein Ansinnen, das auch "Lokalisation" genannt wird
Hysterie nicht einem Hirnareal zuordenbar
Damit kommt man aber nicht weit, wenn man sich mit Psychoanalyse beschäftigt. Und zwar deshalb nicht, weil letztere quasi als "Kontrastprogramm" zu dieser "eine Funktion - ein Areal"-Idee entstand.

Für Karen Kaplan-Solms und Mark Solms hatte Freud begriffen, dass die Ursache für eine komplexe Störung wie die Hysterie (mit der manchmal Lähmungen, Sprachverlust und ähnliches einhergehen) nicht einfach in der Schädigung einer bestimmten Gehirnregion liegen konnte.
Hat zu viele "Gesichter"
Dafür hatte die Hysterie zu viele verschiedene "Gesichter". Auslöser war offenbar vielmehr eine Art Verstörung der Psyche als solche - und damit eines Systems, das nicht einzelnen Gehirnteilen zuordenbar ist, sondern gleichsam "zwischen" diesen liegt.

Womit man sich die Psyche wie das Bild eines Mikroskops vorzustellen hat, das von der Gesamtheit der Mikroskopteile hervorgebracht wird, aber nicht zu einem bestimmten Teil gehört.
Funktionale, nicht anatomische Beschreibung
In weiterer Folge versuchte Freud, dieses System Psyche "funktional" zu beschreiben; das heißt, er versuchte zu zeigen, wie ein Psychenteil - z.B. das Bewusstsein - mit einem anderen Teil - etwa mit dem Unbewussten - in Beziehung steht und welche Funktion diesen Teilen zukommt.

Wozu er aber eben nicht empirisch-naturwissenschaftliche Beobachtungsbegriffe benutzte, sondern auf psychologische zurückgriff, die man im eigenen Erleben nachvollziehen, aber nicht unbedingt mit harten Fakten untermauern konnte.

Die Psychoanalyse war damit erfunden - und mit ihr ein Theoriegebäude, das mit den Lokalisations-Bestrebungen und Vorgehensweisen der Gehirnwissenschaften recht wenig zu tun hat.
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Seit einigen Jahren tritt die Psychoanalyse der Gegenwart verstärkt in einen Dialog mit ihren empirischen Nachbardisziplinen, den Kognitions- und Neurowissenschaften. Die Wiener Psychoanalytikerin Patrizia Giampieri-Deutsch hat über diese interdisziplinäre Zusammenarbeit 2002 ein Buch herausgegeben, das den Stand der Diskussion zusammenfasst.
->   Mehr dazu: Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften
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Auch Funktionssysteme lassen sich lokalisieren
Wie Karen Kaplan-Solms und Mark Solms erläutert haben, lässt sich jedoch auch ein "dynamisches Funktionssystem", das "zwischen" den Gehirnteilen liegt, "lokalisieren" - wenn man es nur richtig macht.

Und richtig gemacht hat es nach Ansicht der beiden der 1977 verstorbene russische Psychologe und Freud-Schüler Aleksandr Romanovich Lurija, der ähnlich wie Freud in Funktionssystemen dachte.
Nicht Areale, sondern Faktoren-Suche im Gehirn
Will man beispielsweise wissen, warum ein Funktionssystem wie das Sprechen ausfällt, muss man laut Lurija als erstes die Symptome ganz genau beschreiben, um in weiterer Folge die Gründe für diesen "Funktionszusammenbruch" herauszuarbeiten.

Es gilt dazu, auf "Faktoren-" oder "Komponentensuche" zu gehen, denn ein Funktionssystem wie das Sprechen - und das ist der Clou des Ansatzes von Lurija - wird nicht nur von einem Gehirnteil "gespeist", sondern von mehreren.

Weshalb es nicht Areale oder Zentren, sondern Komponenten in den Gehirnteilen aufzuspüren gilt, die das entsprechende Funktionssystem mit aufbauen. Aus der Areal-Lokalisation wird so eine Faktoren-Lokalisation, mit der man sich dann auch einer Konzeption der Psyche annähern kann, wie sie die Psychoanalyse darstellt.
Wo das "Ich" sitzt ...
Denn es wird zwar nicht möglich sein, ein "Ich" als Areal im Gehirn zu lokalisieren; sehr wohl werden sich aber Faktoren oder Komponenten bestimmen lassen, die das "Ich" generieren. Oder besser gesagt: das, was als "Ich" bezeichnet wird.

Für Kaplan-Solms und Solms ist letzteres bei Freud das Gefüge aus Wahrnehmung und Bewusstsein, mit dem "Informationen" über die Welt gesammelt und gespeichert werden.

Sucht man nach den Komponenten dieses Systems (da es etwa um Seh- und Gedächtnisleistungen geht, sind solche Komponenten beispielsweise der Sehsinn oder diverse Symbolisierungsprozesse), wird man feststellen, dass gleich ein ganzes Bündel an Gehirnteilen als physiologische Heimstätte dieser Komponenten am Aufbau des "Ichs" beteiligt ist, nämlich der "kortiko-thalamischer Ausdehnungsbereich", der mithin als anatomische Basis oder als hirnphysiologischer Sitz des "Ich" betrachtet werden kann.
... und das "Es"
Ähnlich verhält es sich mit dem "Es": Bei Freud der Ort des Unbewussten, der Triebe und verschiedener automatisch ablaufender Prozesse, kann dieses für Karen Kaplan-Solms und Mark Solms mit den so genannten "viszeralen Strukturen", ergo mit den inneren Organen und deren Nervensystem, identifiziert werden.

Was, wenn man wieder die Methode der "dynamischen Lokalisation" Lurijas anwendet, zu einer Verankerung des "Es" in der grauen Substanz des Zentralnervensystems und im Hypothalamus führt.
Brücke von Neurowissenschaften zu Psychoanalyse
Wie Mark Solms selbst unlängst in der Zeitschrift "Gehirn & Geist" andeutete, ist man damit allerdings noch nicht einmal in die Nähe des wirklichen Themas der Psychoanalyse gelangt, in der es ja vor allem um die Inhalte des Unbewussten geht.

Dennoch ist mit diesen Lokalisationsversuchen ein erster Brückenschlag zwischen Neurowissenschaften und Psychoanalyse passiert.

Und der könnte, wie die beiden Briten betonen, die Basis für eine neue "Neuro-Psychoanalyse" sein, die langfristig revolutionäre Behandlungsmöglichkeiten eröffnet.

Christian Eigner/APA, 5.5.06
[science.ORF.at]
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Buch-Hinweis
Das Buch "Neuro-Psychoanalyse" von Karen Kaplan-Solms und Mark Solms ist 2005 in zweiter Auflage bei Klett-Cotta erschienen.
->   Das Buch bei Klett-Cotta
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01.01.2010