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Casimir-Effekt: Ein Mythos auf Schiffsreise  
  Es muss nicht immer die Spinne in der Yuccapalme oder das Krokodil im Kanal sein, moderne Mythen gibt es auch in der Wissenschaft. Einen hat nun ein italo-amerikanischer Physiker entdeckt: Dabei handelt es sich um eine oft zitierte Umschreibung des so genannten Casimir-Effekts, die Anleihen aus dem Bereich der Schifffahrt nimmt.  
Diese eignet sich zwar bestens um den besagten Effekt anschaulich zu machen, nur ist sie weder historisch noch physikalisch belegt, wie Fabrizio Pinto herausgefunden hat.
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Über den Schiffsmythos berichtet Phillip Ball im Artikel "Popular physics myth is all at sea", erschienen auf der Website von "Nature" (doi:10.1038/news060501-7).
->   Zum Artikel
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"Mund halten!"
"Shut up and calculate!" - "Halt den Mund und rechne!", soll einst der US-Physiker Richard Feynman gesagt haben, als man ihn nach seiner Interpretation der Quantentheorie fragte. Damit reagierte er, so sagt man, auf den Wildwuchs an Deutungen, die im Lauf der Zeit vorgeschlagen wurden.

Dass es Interpretationen geben muss, ist klar: Denn eine Theorie wird erst dann zu einer physikalischen Theorie, wenn ihre mathematischen Symbole mit einer physikalischen Bedeutung unterlegt werden. Erst dann liegt eine Beschreibung der Wirklichkeit vor. Nur wie man das tut, lässt offenbar gerade in der Quantentheorie ziemlich kreative Spielräume zu.

Da gibt es etwa die bekannte Kopenhagener Deutung, der zufolge eine ontologische Unbestimmtheit in der Mikrowelt obwaltet, die erst durch die Messung aufgehoben wird, eine weitere Lesart, die dem Bewusstsein des Physikers im Messprozess eine Schlüsselrolle zuschreibt - und eine noch bizarrere Viele-Welten-Theorie, der zufolge viele unterschiedliche Zustände des Universums gleichzeitig existieren.
->   Viele-Welten-Theorie - Wikipedia
Der Casimir-Effekt
Das ist bisweilen hartes Brot, daher freut man sich, wenn hin und wieder Beschreibungen von Quanten-Effekten gelingen, die eine Anbindung an unsere vertraute Lebenswelt aufweisen.

Zum Beispiel diese: Nach einer Vorhersage des niederländischen Physikers Hendrik Casimir aus dem Jahr 1948 entsteht zwischen zwei im Vakuum parallel gelagerten Platten eine mysteriöse Kraft, die heute als Casimir-Effekt bezeichnet wird.

Der Grund dafür liegt darin, dass selbst im leeren Raum laufend virtuelle Teilchen geboren werden und vergehen. Wobei außerhalb der Platten solche mit ganz beliebigem Impuls entstehen können, zwischen ihnen jedoch nicht. Das führt per saldo zu einem Druck, der die beiden Platten aufeinander zu bewegt, was auch bereits im Experiment nachgewiesen wurde.
->   Casimir-Effekt - Wikipedia
Kraft zwischen zwei Booten
Wer sich jetzt langweilt, muss zumindest einen Absatz weiter lesen, denn das war natürlich noch nicht die anschauliche Beschreibung. Die stammt vom niederländischen Physiker Sipko Boersma, der den Casimir-Effekt vor elf Jahren im "American Journal of Physics" (Bd. 64, S. 541) mit einem Phänomen aus der Schifffahrt verglich.

Boersma zufolge herrscht auch zwischen zwei Booten, die bei starkem Seegang parallel zueinander ankern, eine anziehende Kraft. Und zwar deswegen, weil außerhalb der Boote Wellen beliebiger Länge entstehen können, zwischen ihnen jedoch nicht. Das führt per saldo zu einem Druck, der ... nun, man ahnt bereits, welche Analogie er im Sinn hatte.

Boersma berief sich dabei auf den französischen Autor P. C. Caussée, der diese Kraft erstmals 1836 in seinem Buch L'Album du Marin beschrieb.
Mnemo-Kurzschluss?
Die Schiff-Analogie wurde daraufhin von der Forschergemeinde mit Freude aufgegriffen, oft zitiert und sogar in der Fachzeitschrift "Nature" (Bd. 419, S. 119) erwähnt. Einziger Schönheitsfehler des plastischen Vergleichs: Er dürfte weder physikalisch noch historisch begründet sein.

Zunächst zum Historischen: Der Physiker Fabrizio Pinto warf kürzlich einen Blick in Caussées L'Album du Marin und fand, dass Caussée tatsächlich eine attraktive Kraft zwischen zwei Booten beschrieb. Allerdings bei völliger Flaute. Pinto vermutet, dass die Wellen-Argumentation das Produkt eines Kurzschlusses zwischen Text und Bild darstellt.

Boersma dürfte den betreffenden Textabschnitt in der Erinnerung irrtümlich einer anderen Abbildung zugeordnet haben, auf der wilder Seegang zu sehen ist, obgleich sie nichts mit dem diskutierten Phänomen zu tun hat.
Legendäre Legenden
Skepsis dürfte nach Pinto auch aus physikalischer Sicht angebracht sein: Seinen Recherchen zufolge findet sich in der Fachliteratur kein einziger Hinweis auf eine anziehende Kraft zwischen zwei schwimmenden Körpern, sei es nun mit oder ohne Wellengang. Seine Conclusio: "Wir haben hier die Physikergemeinde bei der Begründung eines Mythos ertappt." Ein charmanter zwar, wie man hinzugügen könnte, aber eben doch ein Mythos.

Womit es nun einen weiteren Eintrag in der langen Liste wissenschaftlicher Legenden gibt, in der etwa Newtons Apfel oder Galileis Diktum "Und sie bewegt sich doch!" ein prominentes Plätzchen besetzen.

Eines ist im Übrigen auch für den Ausspruch "Shut up and calculate!" reserviert. Der stammt nämlich gar nicht von Richard Feynman, sondern von seinem Fachkollegen N. David Mermin.

Robert Czepel, science.ORF.at, 8.5.06
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Literatur-Tipp
Zu "Shut up and calculate!" erschien in der Zeitschrift "Physics Today" (Bd. 57, S. 10) eine amüsanter Artikel von N. David Mermin, in dem er auf die Suche nach dem Urheber des Ausspruchs geht.
->   Zum Artikel
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01.01.2010