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Wie man das Gehirn besonders formbar macht  
  Lernen und die Regeneration von Hirnverletzungen haben eines gemeinsam: Beide Prozesse greifen auf die Bildung neuer Nervennetze zurück. US-Forscher haben nun ein Molekül gefunden, das diese Fähigkeit einschränkt. Entfernt man die "Neuro-Bremse", stellt sich Erfreuliches ein: Das Gehirn wird deutlich anpassungsfähiger.  
Wie ein Team um Carla J. Shatz von der Harvard Medical School berichtet, handelt es sich dabei um das Immunmolekül "PirB", was darauf hinweist, dass Gehirn und Immunsystem stärker miteinander verbunden sind als bisher angenommen. Die an Mäusen gewonnenen Erkenntnisse könnten langfristig zu neuen Therapien führen.
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Die Studie "PirB Restricts Ocular-Dominance Plasticity in Visual Cortex" von Josh Syken et al. erschien auf der Website von "Science" (doi: 10.1126/science.1128232).
->   Abstract
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Früh übt sich
Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr, sagt der Volksmund. Was in gewisser Weise auch richtig ist: Gewisse Lernprozesse sind tatsächlich auf so genannte kritische Perioden beschränkt. Das weiß man beispielsweise aus klassischen Versuchen von Douglas Spalding und Konrad Lorenz, die an jungen Hühnern bzw. Graugänsen die so genannte Nachfolgeprägung entdeckten.

Wie die beiden Verhaltensforscher herausfanden, kommen die Tiere offenbar mit einem äußerst groben Konzept des "Artgenossen" zur Welt, das da lautet: Ein Artgenosse ist, was größer ist als ich, sich in meiner unmittelbaren Nähe bewegt und gegebenenfalls einen Kontaktruf aussendet. Das genügt im Regelfall, um die Jungtiere an ihre Eltern zu binden.
Fehlprägungen
Unter künstlichen Bedingungen kann man den groben Reizfilter der Jungtiere aber durchaus irreführen: So wurden Graugänse beispielsweise auf Menschen - ja sogar auf bewegtes Spielzeug - geprägt, die sie fortan als Artgenossen betrachteten. Und diese Entscheidung blieb unumkehrbar - wurde das kritische Zeitfenster für die Nachfolgeprägung überschritten, signalisierte das Nervensystem offenbar: Nichts geht mehr.
->   Prägung - Wikipedia
Einäugige Affen
Einen ersten Hinweis, wie so ein Rien ne va plus auf neurologischer Ebene aussehen könnte,
lieferten 1977 die späteren Nobelpreisträger Torsten Wiesel und David Hubel: Sie schlossen zwei Wochen alten Makaken ein Auge und untersuchten 18 Monate später, wie sich dieser Eingriff auf die Architektur der Großhirnrinde ausgewirkt hatte.

Dabei zeigte sich, dass jene Bereiche des visuellen Cortex, die Informationen des gesunden Auges empfangen, unverhältnismäßig groß waren. Mehr noch, sie hatten sich zum Teil auf jenen Bereich ausgedehnt, der normalerweise das andere - nun geschlossene - Auge repräsentiert.

Und auch hier konnte die Verdrahtung im Gehirn nicht mehr rückgängig gemacht werden, die "okkulare Dominanz" - sprich: "Einäugigkeit" war dem Affenhirn quasi eingeschrieben worden.
Kritische Periode in der Kritik
Was natürlich nicht heißt, dass sämtliche Lernvorgänge ein inhärentes Ablaufdatum besitzen. Die OECD etwa bezeichnete jüngst das Konzept der kritischen Periode als "Neuro-Mythos", weil es nur zu oft in unpräziser Sprechweise angewandt wurde - etwa nach dem Motto: Das Gehirn verhält sich nur in den ersten drei Lebensjahren plastisch, weswegen allein dieser Lebensabschnitt für die spätere Entwicklung entscheidend ist.

Das ist freilich Unsinn: Es gibt alle möglichen Übergänge zwischen kurz- und langfristig formbaren Systemen im Gehirn, betont die OECD, und zieht in einem Dokument die sprachliche Lernfähigkeit als Beispiel heran: In semantischer Hinsicht bleiben wir zum Glück das ganze Leben lernfähig.

Lediglich das Erlernen neuer Grammatiken und Lautäußerungen scheint uns nach der Kindheit etwas schwerer zu fallen - völlig abhanden kommt uns diese Fähigkeit indes auch im Alter nicht.
->   OECD - Neuromyths
Immunsystem unterstützt Gehirn
Dass der sprichwörtliche Hans mitunter beim Lernen etwas schwerfälliger agiert als Hänschen, liegt offenbar daran, dass die Fähigkeit des Gehirns zur Bildung neuer Netzwerke abnimmt. Fachleute sprechen in diesem Zusammenhang von "neuronaler Plastizität", deren molekulare Grundlage nun ein Team um Carla J. Shatz von der Harvard Medical School aufgeklärt hat:

Die US-Forscher griffen dabei auf eine Entdeckung zurück, die sie bereits vor sechs Jahren machten. Damals fanden sie heraus, dass die so genannten MHC-Moleküle, die bis dahin nur als Schlüsselspieler des Immunsystems bekannt waren, offenbar auch von Neuronen hergestellt und für die vollständige Entwicklung des Nervensystems benötigt werden (Science 290, 2155).
Gen-Knockout macht das Gehirn flexibel
Wie sich nun herausstellte, haben diese Moleküle noch wichtigere Aufgaben im Gehirn zu erledigen. Shatz und ihre Kollegen züchteten so genannte Knockout-Mäuse, denen das Gen für einen speziellen MHC-Rezeptor aus dem Erbgut entfernt wurde, und wiederholten die klassischen Experimente, die Hubel und Wiesel vor 30 Jahren an Affen durchgeführt hatten.

Allerdings in Variation: Sie schlossen nämlich nicht jungen Mäusen ein Auge, sondern ausgewachsenen. Einige Tage später untersuchten sie die visuellen Areale in der Großhirnrinde und fanden heraus, dass die neuronale Plastizität der Mutanten ungewöhnlich erhöht war: Die für das gesunde Auge verantwortlichen Areale hatten sich ausgedehnt und den Eingriff zum Teil kompensiert.
Bremse in der Denkmaschine
Noch erstaunlicher war die Tatsache, dass der Effekt auch bei Jungtieren nachgewiesen werden konnte - in jener Periode also, während derer das visuelle System laut Hubel und Wiesel ohnehin sehr formbar ist. Das eliminierte Molekül namens PirB dürfte also so etwas wie eine Neuro-Bremse sein, in deren Abwesenheit das Gehirn besonders flexibel reagiert.

"Dieses Ergebnis ist auch außerhalb der neuronalen Entwicklungsbiologie interessant", sagt der Erstautor der Studie, Josh Syken: "Moleküle, welche die neuronale Plastizität einschränken, bieten sich freilich für Therapien an, um neue Nervenverbindungen zu schaffen. Sei es nun bei Rückenmarks- und Kopfverletzungen oder bei Schlaganfällen."

[science.ORF.at, 18.8.06]
->   Website von Carla Shatz
 
 
 
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01.01.2010