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New Orleans - ein Jahr nach Hurrikan Katrina  
  Ende August 2005 verwüstete der Hurrikan Katrina weite Landstriche im Südosten der USA, besonders betroffen war der Großraum um New Orleans. Der österreichische Geschichtsprofessor Günter Bischof von der University of New Orleans erlebt die Schwierigkeiten beim Wiederaufbau hautnah. Auch die passende Art der Erinnerung an die Naturkatastrophe zu finden, erweist sich bisher als schwierig.  
Katrina - Träume und Ängste
Von Günter Bischof

Vor einem Jahr wurde die Golfküste der US-Bundesstaaten Louisiana und Mississippi von dem Hurrikan Katrina verwüstet. Einen Monat später zerstörte der Hurrikan Rita den westlichen Teil der Küste Louisianas, der nicht von Katrina getroffen wurde. Sturmfluten führten zu zerstörerischen Überschwemmungen von großen Teilen der Stadt New Orleans.

Katrina löste eine der größten Naturkatastrophen der amerikanischen Geschichte aus. Ein Besuch der Golfküste Mississippis und von Venice in Plaquemines Parish, dem Endpunkt der amerikanischen Zivilisation entlang des Flusses Mississippi, bestätigt, dass das Ausmaß der Zerstörung unvorstellbar ist. Es ist nun nur noch wenig Zivilisation in diesen Küstenregionen zu finden. Die Stadt New Orleans durchsteht eine ähnlich schwere Zeit, um zu der Zivilisation, die vor Katrina bestand, zurückzukehren.
Im Sturm der Ein-Jahres-Feiern
Der zerstörerische Hurrikan produziert nun einen Sturm an "Geburtstagsaktivitäten". Letzte Woche stellte der Regisseur Spike Lee seine vierstündige Dokumentation "When the Levees Broke: A Requiem in Four Acts" (Als die Deiche brachen: Ein Requiem in vier Akten) Tausenden von Zuschauern vor.

Der Fernsehsender Hearst-Argyle spielte den "Song of New Orleans" im Lokalprogramm - ein berührendes Profil über die "Rebirth Brass Band", die durch Katrina über das Land verstreut wurde, und über ihren beispielhaften Kampf ums Überlebens.

In der kommenden Woche wird jeder Fernsehsender - vom Wetterkanal bis hin zum Ernährungskanal - seine "Katrina-Specials" präsentieren.
Zwischen Feiern und Gedenken - ein schmaler Grat
Auch der wieder gewählte Bürgermeister von New Orleans, Ray Nagin, hatte ursprünglich ein Feuerwerk und eine Comedy-Show als Teil der Geburtstagsaktivitäten der Stadt geplant.

Doch Kritiker dieses würdelosen Schauspiels - dies sei respektlos gegenüber den 1.200 und mehr Personen, die in der Folge von Katrina starben - brachten den Bürgermeister dazu, seine Pläne zurückzunehmen. Nun werden Gedenkfeiern vorbereitet.

Vertreter der Stadt kamen zusammen, um den Spatenstich für das erste größere Katrina-Mahnmal im zerstörten "9th Ward" zu feiern. Allerdings wurde nur einige Tage später Bauausrüstung im Wert von 100.000 US-Dollar von der Baustelle gestohlen - ein schlechter Start.
Umgang mit dem Erinnern
Doch wie gedenkt man der Zerstörung einer großen Metropole durch eine Naturkatastrophe? Offenbar ist eine Politik der Erinnerung wichtig, insbesondere für jene politischen Akteure, die in ihren Wahlkreisen scheiterten. Eine Fortsetzung des "Wer-ist-Schuld-Spiels" wird vermutlich Teil ihrer Ansprachen sein.

Würdevolle Erinnerung ist wichtig für all jene, die jemand in dem Sturm verloren haben. Lässt man nun zerstörte Stadtteile unberührt, damit die Katastrophe sichtbar bleibt - so wie die englische Industriestadt Coventry oder Dresden die im Krieg zerbombten Kirchen stehen ließen? Oder versucht man schlechte Erinnerungen zu löschen, indem man Bauwerke komplett abreißt, wie die Berliner ihre Mauer. Das komplette Fehlen von Mauerstücken als Erinnerung an die Teilung bereuen manche.

Oder baut man eine Mauer, die alle Namen der Sturmopfer trägt? Soll man große Architekten wie etwa Maya Lin (u.a. Vietnam-Veteranen-Denkmal in Washington DC) oder Daniel Liebeskind (u.a. Jüdisches Museum Berlin) für ein Erinnerungsbauwerk anheuern? Baut man ein Denkmal wie in Oklahoma City nach den Bombenanschlägen und in New York City nach 9/11?
Über wahre Helden ...
Wie der Streit über das angemessene Gedenken in Bezug auf 9/11 erahnen lässt, wird der Konflikt über das adäquate Erinnern in New Orleans noch eine Zeit weitergehen. Wie immer nach großen Katastrophen werden die privaten Erinnerungen mit der konstruierten öffentlichen Erinnerung im Wettkampf stehen.

Werden Politiker den Mut aufbringen, die Erinnerungen an die wahren Helden des Hurrikans aufrecht zu erhalten - nämlich an die Küstenwache und die Retter der privaten "Cajun Navy", die Tausende von Personen von den Dächern einer überschwemmten Stadt holten wie auch das Gesundheitspersonal, das mit ihren Patienten in den überfluteten Krankenhäuser blieben?

Wie viel Zeit braucht es, schlechte Erinnerungen zu vertreiben und mit Traumatisierungen und posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) umzugehen, bevor man Denkmäler bauen kann, die den bürgerlichen Stolz wiederbeleben?
... und Täter
Es ist auch eine Frage, wie man der Hobbes'schen Anarchie gedenkt, die die Stadt für einige Tage befiel, nachdem die Deiche brachen. Es ist anzunehmen, dass viele von denen, die plünderten, stahlen und absichtlich Besitz zerstörten, noch unter uns leben.

Versteckte Rassen-Spannungen, die in dieser Ausnahmesituation so sichtbar wurden, sind vernachlässigt worden und Populisten auf beiden Seiten spielen damit.

Wahrscheinlich wird der schnelle Kollaps der Zivilisation nicht Thema des Gedenkens sein. Schlechte Erinnerungen werden gern unterdrückt. Der Opfer wird gedacht, die Täter werden vergessen.
Ein Jahr danach
Wie ist die Stimmung in New Orleans ein Jahr nach Katrina? Sie pendelt zwischen Niedergeschlagenheit über den fehlenden Fortschritt beim Aufbau und der Hoffnung, dass die Dinge nur besser werden können.

Die Gesundheitskrise hält an: Es gibt einen Mangel an Krankenhäusern und Gesundheitspersonal. 80 Prozent der Psychotherapeuten verließen nach Katrina die Stadt. Das zu einem Zeitpunkt, als fast jeder mit psychischen Problemen zu kämpfen hatte.

Die Schlaglöcher auf den Straßen New Orleans zu umfahren, ähnelt einem Hinderniskurs, denn die Stadt hat kein Geld, die Straßen auszubessern.

Zusammengefasst: Die Stadt hat Probleme, einen konzentrierten Planungsprozess in Gang zu bringen. Bei aller Langsamkeit und Planungsunsicherheit: Im Allgemeinen dauert es eine Generation, größere urbane Zentren wieder aufzubauen, die vormals durch Naturkatastrophen oder Kriege zerstört wurden.

Falls New Orleans ein weiterer großer Hurrikan erspart bleibt, wird die Genesung der Stadt fortschreiten. Ein weiterer großer - und der Glaube in die Zukunft der Stadt ist gefährdet.

[28.8.06]
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Über den Autor
Günter Bischof, ein gebürtiger Vorarlberger, ist Geschichtsprofessor an der University of New Orleans.
->   Center Austria, Universität New Orleans
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->   Hurrikan Katrina - Wikipedia
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->   New Orleans: Kultur und Identität nach dem Hurrikan (25.10.05)
->   "Kurzvertrag": Episode der Staatvertragsverhandlungen (9.5.05)
->   Alle Beiträge zum Stichwort Hurrikan auf science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010