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Zu viele Männer bedrohen das soziale Gleichgewicht  
  In weiten Teilen Afrikas und Asiens werden männliche Babys bevorzugt. Geschlechtsspezifische Geburtenkontrolle und Vernachlässigung von Frauen im Gesundheitsbereich haben dort zu einem Überschuss von Männern im heiratsfähigen Alter geführt. Dieses Ungleichgewicht kann zu asozialem Verhalten und mehr Gewalt führen und so die Stabilität dieser Länder bedrohen.  
Davor warnen Therese Hesketh vom University College London und Zhu Wie Xing von der Zhejiang Normal University in China in einem Artikel in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS).
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Der Artikel "Abnormal sex ratios in human populations: Causes and consequences" von Th. Hesketh ist in den PNAS (Bd.103, S.13271-13275, 28.8.06) erschienen.
->   Artikel
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Ohne Manipulation ...
Ohne künstliche Eingriffe ist das Geschlechterverhältnis weltweit relativ stabil, sowohl in Bezug auf die Geburtenrate als auch auf die Gesamtbevölkerung. Im Jahr 2001 etwa lag der Anteil an Männern weltweit bei 50,4 Prozent.

Besonders bei der Geburtenrate gibt es immer einen leichten Überhang beim männlichen Geschlecht. Das heißt im Normalfall kommen auf 100 geborene Mädchen 105-107 Buben.
...wäre Geschlechterverhältnis stabil
Unterschiedliche Faktoren können das Verhältnis verändern: Familiengrößen, Alter der Eltern, hormonelle Behandlungen, Umweltgifte, Krankheiten oder Stress. So war zum Beispiel nach den zwei Weltkriegen ein leichter Anstieg an Männern zu beobachten. Dafür gibt es sowohl biologische als auch evolutionäre Erklärungsversuche.

Möglicherweise hat der Stress die Qualität der Spermien beeinträchtigt oder die veränderte Altersstruktur den Anstieg verursacht. Evolutionstheoretiker halten auch einen Ausgleich des Verlusts an Männern durch den Krieg für möglich. Die wahren Gründe sind bis heute unklar.

Wie auch immer: Betrachtet man das Geschlechterverhältnis der Gesamtbevölkerung, gleicht sich der prinzipielle Überhang an männlichen Geburten aus. Frauen sind durchschnittlich gesünder und haben eine längere Lebenserwartung. Das heißt, insgesamt gibt es ungefähr gleich viele Männer wie Frauen.
Ungleichgewicht durch geschlechtspezifische Selektion
Die Bevorzugung von Männern hat in großen Teilen Asiens und Nordafrikas eine starke Tradition. Geschlechtsspezifische Abtreibungen und gesundheitliche Vernachlässigung von Frauen haben die natürliche Ausgewogenheit in den letzten 20 Jahren ziemlich aus dem Lot gebracht. Beides erhöht die Frauensterblichkeit.

Das führte dazu, dass heute allein in China und Indien ungefähr 80 Millionen Frauen "fehlen". Besonders dramatisch ist die Lage in jenen Ländern, die zusätzlich die Kleinfamilie propagieren, wie die "Ein-Kind-Familie" in China: Im Zweifelsfall entscheiden sich dort die meisten Eltern für einen Sohn.
Warum Söhne?
Die Gründe, warum in diesen Regionen Buben immer noch der Vorzug gegeben wird, sind vielfältig. Sie können mehr Geld verdienen, sie setzen den Stammbaum fort und erben den Besitz.

Mädchen hingegen gelten eher als Last, da die Mitgift immer noch weit verbreitet ist. Außerdem werden sie nach der Hochzeit oft automatisch Mitglieder der anderen Familie und können so bei der Alterversorgung nicht mehr mithelfen.
Geburtenkontrolle als Ursache
Eine Bestimmung des Geschlechts vor der Geburt gibt es etwa seit Mitte der 1980er Jahre. Das heißt der große Männerüberschuss erreicht gerade das Erwachsenenalter. Daher gibt es noch kaum Studien dazu, mögliche soziale Konsequenzen sind spekulativ.

Sicher ist, dass viele dieser Männer allein bleiben und keine Familie haben werden. Und das in Gesellschaften, in welchen die Ehe einen hohen sozialen Status hat. Eine Familie zu haben, ist für die Akzeptanz und die Integration wesentlich.

Zudem leben viele dieser jungen Männer in armen ländlichen Regionen, haben ein niedriges Einkommen und sind nur begrenzt gebildet. Frauen hingegen verhilft der Überschuss zu mehr Wahlfreiheit. Sie könnten ihren sozialen Status verbessern, indem sie "reich heiraten". Die weniger Begehrten würden zurück bleiben.

So sind etwa in China 94 Prozent aller nicht Verheirateten zwischen 28 und 49 Jahren männlichen Geschlechts und 97 Prozent davon haben nicht einmal einen Pflichtschulabschluss.
Negative Konsequenzen des Männerüberschusses
Insgesamt führt dies zu einer gesellschaftlichen Marginalisierung der überschüssigen Männer, die keinerlei Aussicht auf eine Familie haben und ihre sexuellen Energien nicht abbauen können. Die Autoren meinen, dass all diese Faktoren zu einem Anstieg von asozialem Verhalten und Gewalt führen werden. Das bedrohe die Stabilität und die Sicherheit der gesamten Gesellschaft.

Es gilt als gesichert, dass der überwiegende Anteil an Gewaltverbrechen von jungen, nicht verheirateten Männern mit geringem sozialen Status begangen wird, und zwar in allen Kulturen. Ihre Zusammenrottung könnte zu verstärkter und organisierter Aggression führen.

Eine weitere mögliche Konsequenz ist eine Zunahme der Sex-Industrie, dies ist zumindest in Indien und China bereits der Fall. Die Autoren räumen ein, dass dies auch andere sozioökonomische Gründe haben könnte, wie eine gesteigerte Mobilität oder eine Veränderung von Einstellungen.
Positive Auswirkungen und Gegenmaßnahmen
Das Ungleichgewicht kann aber auch positive Auswirkungen haben. Die Geburtenrate könnte sinken, was in Ländern mit starkem Bevölkerungswachstum auch von Vorteil wäre. Außerdem könnte das soziale Ansehen von Frauen durch ihren Mangel steigen, was wiederum mehr Eltern dazu bringen könnte, weibliche Kind in die Welt zu setzten.

Das sind allerdings Spekulationen. Demographisch ist der Überschuss ein Problem, für das rasch Lösungen gesucht werden müssen. Dass dies auch gelingen kann, dafür gibt es erste positive Beispiele.

In Südkorea ist das Überschuss schon wieder rückläufig, von 116 Männern auf 100 Frauen im Jahr 1998 zu immerhin nur mehr 110 Männern auf 100 Frauen im Jahr 2004. Drastische Strafen für geschlechtspezifische Selektion, Frauenrechte und Kampagnen, die das öffentliche Bewusstsein ansprechen, haben dies möglich gemacht.

[science.ORF.at, 29.8.06]
->   University College London
->   Zhejiang Normal University
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01.01.2010