News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 
30. Todestag des Soziologen Paul Lazarsfeld  
  Der geborene Österreicher Paul Lazarsfeld war einer der Wegbereiter der modernen empirischen Sozialforschung. In den 1930er Jahren war er als Mitautor der "Arbeitslosen von Marienthal" hier zu Lande wenig gefragt, erst in den USA machte er Karriere. Die Folgen der Wiederentdeckung des Werkes in den 1970er Jahren bezeichnet der Soziologe Christian Fleck in einem Gastbeitrag als "nachholende Arisierung". Auch die Gründung des heutigen "Instituts für Höhere Studien" mit Lazarsfelds Hilfe in Wien sei keine ruhmreiche Episode Österreichs gewesen.  
Lazarsfeld, nachholende Arisierung und Österreich
Von Christian Fleck

Der Soziologe Paul F. Lazarsfeld, der vor dreißig Jahren, am 30. August 1976 in New York starb, ist in Österreich wenig bekannt. Am häufigsten taucht sein Name dann auf, wenn ein nach ihm benannter Verein wieder einmal Ergebnisse einer Umfrage zu einem mehr oder weniger belanglosen Thema veröffentlicht.

Diese Paul F. Lazarsfeld-Gesellschaft erweist ihrem Namensgeber damit regelmäßig einen Bärendienst, weil sie seinen Ruf auf den des Umfrageforschers reduziert und weil die Qualität der Umfragen weit unter dem Niveau liegt, das er unter technisch viel schwierigeren Verhältnissen zu realisieren vermochte.

(Die überwiegende Zahl der von Lazarsfeld selbst durchgeführten Studien wurde ohne jene leicht zu handhabenden statistischen Auswertungsprogramme realisiert, die es heute einem Diplomanden erlauben, komplexeste Berechnungen durchzuführen.)
Autor der "Arbeitslosen von Marienthal"
Studierende der Sozialwissenschaften lernen ihn in einführenden Lehrveranstaltungen als einen der Autoren der "Arbeitslosen von Marienthal" kennen (manche Nichtsoziologen mögen sich daran erinnern, dass Karin Brandauer 1987 diese Studie zu einem Fernsehfilm mit dem Titel "Einstweilen wird es Mittag" verarbeitete).

"Marienthal", eine Untersuchung über die sozialen und psychologischen "Wirkungen lang dauernder Arbeitslosigkeit" (so der Untertitel), wurde Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts in dem Arbeiterdorf gleichen Namens im Südosten von Wien, das heute ein Ortsteil von Gramatneusiedl ist, durchgeführt.
Vor allem im Ausland rezipiert
Das schmale Buch erschien im Frühjahr 1933 in einem deutschen Verlag - nicht die beste Zeit für eine sozialwissenschaftliche Veröffentlichung aus der Feder jüdischer Sozialdemokraten.

Kein Wunder also, dass diese Studie zuerst im nicht-deutschsprachigen Ausland bekannt wurde, obwohl sie damals gar nicht in einer englischen Übersetzung vorlag, aber in der Zwischenkriegszeit war die Beherrschung des Deutschen unter ausländischen Wissenschaftlern noch häufiger.
...
Radio-Hinweis
Auch die Ö1-Dimensionen widmen sich dem 30. Todestag von Paul Lazarsfeld: Mittwoch, 30. August, 19.05 Uhr, Radio Österreich 1.
->   Mehr dazu in oe1.ORF.at
...
Wiederentdeckung in 1970er Jahren ...
Zur Wiederentdeckung "Marienthals" kam es erst Mitte der 1970er-Jahre, als der Suhrkamp Verlag diese Studie in einer Taschenbuchausgabe zugänglich machte, die seither viele Auflagen erlebte.

Schon davor, 1960, hatten Elisabeth Noelle-Neumann und ihr damaliger Ehemann Peter Neumann, die in Allensbach ein Institut für Demoskopie betrieben, das Buch entdeckt und wandten sich mit der Bitte an Lazarsfeld, eine deutsche Wiederveröffentlichung in der von ihrem Institut begründeten Reihe "Klassiker der Umfrageforschung" herausbringen zu dürfen.
... eine "nachholende Arisierung"
Lazarsfeld, damals am Höhepunkt seiner Karriere als "Gründer eines multinationalen Wissenschaftskonzerns", wie Michael Pollak zugespitzt formulierte, stimmte dem Ansinnen zu und verzichtete auf Drängen von Frau Noelle auch auf ein Honorar: Sie erwarte nur einen sehr beschränkten Verkauf.

Fünfzehn Jahre später verkauften Noelle und Neumann die Rechte dieser Ausgabe an Suhrkamp und beziehen seither aus Frankfurt nicht zu schmale Tantiemen. Kann man das anders als nachholende Arisierung nennen?
Ging 1933 als Stipendiat nach New York
Lazarsfeld ging im Herbst 1933 aus Österreich weg. Nicht als politischer Flüchtling, sondern als Stipendiat der Rockefeller Foundation, die ihm zuerst für ein Jahr und dann noch für ein zweites einen Forschungsaufenthalt in den USA bezahlte.

Während dieser Zeit verfinsterten sich die politischen Verhältnisse in Österreich und Lazarsfeld sah in New York bessere berufliche und sicherere politische Verhältnisse und beschloss daher, sich 1935 um ein Einwanderungsvisum zu bemühen.
Kein Wiederkehr-Angebot Österreichs
Nach Österreich kam er erstmals 1958 auf Besuch. Von früheren Einladungen an ihn ist nichts bekannt, dass ihm nach Kriegsende gar eine Stelle an einer österreichischen Universität angeboten wäre, auf diese Idee kam schon gar niemand.

Dass Lazarsfeld das Stellenangebot ziemlich sicher nicht angenommen hätte, spielt dabei keine Rolle.
In Wien passte niemand für Ford Foundation
Im Auftrag der Ford Foundation, die in den 1950er-Jahren weltweit die führende Stiftung für die Finanzierung sozialwissenschaftlicher Forschung war, bereiste Lazarsfeld verschiedene Länder, um nach jungen Leuten Ausschau zu halten, denen man Stipendien geben könnte.

(Damals glaubten noch viele an die gestalterische Kraft der Sozialwissenschaften und überhaupt wurde Geld in dieser Zeit viele großzügiger an Forscher gegeben, aber das ist eine andere Geschichte.)

Aus Wien berichtete Lazarsfeld zerknirscht, dass er hier keine Leute gefunden habe, "who would live up to the standards which the Ford Foundation had set up for the granting of these fellowships."
Gründung einer "Elite-Uni"
Dennoch gab er nicht klein bei, schrieb für die Ford Foundation einen langen "Report on Austria" und schlug darin unter anderem die Gründung einer, heute würde man sagen: Eliteuniversität für moderne empirische Sozialwissenschaften vor.

Die Ähnlichkeit zu dem gegenwärtigen Versuch, in Gugging eine Eliteeinrichtung für naturwissenschaftliche Forschung zu schaffen, ist frappant.
Erst Ausbildung des Nachwuchses verbessern
Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Vorhaben liegt darin, dass Lazarsfeld richtigerweise von der Annahme ausging, dass man zuerst die Ausbildung des Nachwuchses zu verbessern habe, ehe man darauf hoffen könne, Wien wieder zu einem Zentrum sozialwissenschaftlicher Kreativität machen zu können.

Die heutige, wohl eher trügerische Hoffnung, eine selbst ernannte exzellente Einrichtung würde ausländische Studierende und Jungwissenschaftler in Scharen anlocken, war Lazarsfeld nicht fremd - so dachte er, sein Wiener Institut könnte für Osteuropäer attraktiv sein. (Was dann allein schon aus weltpolitischen Gründen der Rivalität der Kalten-Kriegs-Gegner verhindert wurde.)
"Negatives Wohlwollen" des Bildungsministeriums
Was dem offiziellen Österreich damals verdächtig vorkam, war, dass da irgendwelche reiche Onkels aus Amerika kamen und sich erdreisten, die guten alten österreichischen Universitäten für inferior zu erklären und ihnen mittels einer Neugründung Konkurrenz zu machen. Auch das klingt anno 2006 nicht ganz fremd.

Der damalige Unterrichtsminister Heinrich Drimmel (ÖVP), mit dem Lazarsfeld mehr als einmal konferierte, unterschied sich allerdings von seiner Nachfolgerin, hielt er das ganze doch für höchst entbehrlich, allein er wusste nicht, wie es zu verhindern wäre.

Seine Strategie nannte er im internen Schriftverkehr "negatives Wohlwollen". Auch diese Geisteshaltung erscheint die Jahrtausendwende heil überstanden zu haben.
...
Literaturhinweise:
Im Frühjahr 2007 erscheinen bei Suhrkamp zwei Bücher:
Christian Fleck, Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung empirischer Sozialforschung (stw)

Paul F. Lazarsfeld, Empirische Analyse des Handeins. Ausgewählte Schriften. Übersetzt von Hella Beister und herausgegeben von Christian Fleck und Nico Stehr (stw)
->   Biografie und Bibliografie Paul F. Lazarsfeld (Uni Graz)
...
Sehr österreichische Gründung des ...
Im Vorfeld der fünf Jahre dauernden Gründung des "Instituts für höhere Studien" (IHS) ereigneten sich all jene Dinge, die einem gelernten Österreicher nur zu vertraut erscheinen: Korruption, Freunderlwirtschaft und der Versuch der damaligen beiden Großparteien, möglichst vielen ihrer Parteigänger in dem neuen Institut einen Arbeitsplatz zu verschaffen.

Bezeichnendes Detail für das ganze Schlamassel: Das von der Ford Foundation überwiesene Geld ruhte jahrelang auf einem Sparbuch.
... "Instituts für höhere Studien"
Auch nach der dann 1963 doch irgendwie zustande gekommenen Gründung besserten sich die Verhältnisse nicht gleich.

Als 1964 der amerikanische Soziologe James Coleman als Gastprofessor am Institut weilte, fasste er in einem Schreiben an die Ford Foundation seinen Eindruck in folgendem Satz zusammen: "An 'Institute for Advanced Study' [so nannte und nennt sich das IHS stolz] covering only Austria is wholly inappropriate; that is like an Institute for Advanced Study for the state of Tennessee."

[29.8.06]
...
Über den Autor
Christian Fleck ist ao. Univ. Prof. am Institut für Soziologie der Universität Graz.
->   Christian Fleck
...
Zur Gründungsgeschichte des IHS: Christian Fleck, Wie Neues nicht entsteht. Die Gründung des Instituts für höhere Studien in Wien durch Ex-Österreicher und die Ford Foundation, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 11. Jg., H. 1, 129-177
->   Text online auf der Website von Christian Fleck
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Paul Lazarsfeld wäre gestern 100 Jahre alt geworden (13.2.01)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010