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Kooperieren Krebszellen?  
  Krebsforschung und Spieltheorie sind zwei Disziplinen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Stimmt nicht, meint ein US-amerikanischer Spieltheoretiker. Seine These: Kooperierende Krebszellen könnten sich im Tandem zu bösartigen Geschwüren entwickeln, auch wenn sie einzeln durchaus ungefährlich sind.  
Dementsprechend sollten maligne Tumore viel früher entstehen, als es das klassische Krebsmodell vorsieht, folgert ein Team um Robert Axelrod von der University of Michigan in einer aktuellen Studie.
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Die Studie "Evolution of cooperation among tumor cells" erscheint zwischen 28. August und 1. September auf der Website der "Proceedings of the National Academy of Sciences" (doi: 10.1073/pnas.0606053103).
->   Abstract (sobald online)
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Krebs: Wuchernde Zellen
Wenn man an Krebs und Kooperation denkt, dann vermutlich zunächst an folgendes Bild: Zellen arbeiten zum Wohl des Körpers zusammen und fördern so dessen Überleben und Fortpflanzung. Krebszellen hingegen scheren aus dieser gemeinschaftlichen Strategie aus: Sie vermehren sich auf Kosten ihrer Umwelt, was in vielen Fällen zum Absterben des "Ökosystems Körper" führt.

Das ist zwar kurzsichtig, weil damit die Weitergabe von genetischem Material an die nächste Generation eher verhindert als gefördert wird. Aber Einsicht in die Folgen des eigenen Verhaltens ist bekanntlich eine menschliche Kategorie. Krebszellen agieren definitionsgemäß kurzsichtig: Was für sie zählt, ist der momentane Erfolg - sprich die Fähigkeit, die eigene Fortpflanzung gegen die Widerstände des Immunsystems zu maximieren.
Wie entsteht Zusammenarbeit?
Während also Krebs aus Sicht des Körpers als Antithese zu kooperativem Verhalten erscheint, kann man durchaus einmal den Blickwinkel der Krebszellen einnehmen, für die "Kooperation" naturgemäß etwas ganz anderes bedeutet. Diese Perspektive hat nun der US-amerikanische Spieltheoretiker Robert Axelrod für eine aktuelle Studie gewählt.

Axelrod wurde unter anderem für seine Analysen bekannt, die sich folgender zentralen Frage der Spieltheorie widmeten: Wie kann Kooperation zwischen Individuen entstehen, die erstens egoistisch agieren, und denen zweitens keine übergeordnete Instanz vorschreibt, wie sie sich zu verhalten haben?

Wobei man unter "Individuen" nicht nur Menschen oder Tiere verstehen muss: Spieltheoretiker wenden ihre Modelle bekanntlich auf Dinge unterschiedlichster Größe und Provenienz an, wie etwa Regierungen und Nationen - aber auch Zellen oder einzelne Gene.
Zwei Antworten in der Biologie
In der Biologie gibt es auf die oben formulierte Frage jedenfalls zwei prominente Antworten: Sie lautet, dass selbstloses Verhalten keineswegs der gesamten sozialen Umgebung zugute kommt, sondern sich entweder an nahe Verwandte ("Sippenselektion") oder an ebenfalls hilfsbereite Artgenossen ("reziproker Altruismus") richtet.

Allerdings ist mit dem Altruismus, wie selbstloses Verhalten auch genannt wird, nicht die ganze Bandbreite gemeinschaftlichen Agierens abgedeckt. Axelrod und seine Kollegen betonen, dass Kooperation auch auf ganz andere Weise entstehen kann, nämlich als zufälliges Nebenprodukt des eigenen Wachstums. Das gilt zumindest für Krebszellen.
Etappenmodell der Krebsentstehung
Das ist deswegen interessant, weil man die Entstehung von bösartigen Tumoren bislang als Abfolge von Etappen betrachtete, die von Krebsforschern als "hallmarks of cancer" bezeichnet wurden (Cell 100, S. 57).

Unter diesen Kennzeichen befindet sich u.a. die Fähigkeit, den programmierten Zelltod zu umgehen sowie Blutgefäße und Metastasen auszubilden. Entscheidend an diesem Modell ist, dass Tumore erst dann bösartig werden, wenn sie alle notwendigen Etappen (sprich: Mutationen) absolviert haben.
Gemeinsam effektiver
Genau diese Ansicht kritisieren nun Axelrod und Kollegen: Aus spieltheoretischer Sicht könnten zwei gutartige Zellpopulationen viel früher gefährlich werden, sofern sie gemeinsame Sache machen. Dann etwa, wenn den Zellen ein so genannter Wachstumsfaktor fehlt, den die jeweils andere Zellgruppe bereits in ihrem biochemischen Repertoire hat. Auf diese Weise biete sich Kooperation nach dem Motto: "Gibst du mir - geb' ich dir" förmlich an. Wenn auch mit dem für uns verwerflichen Ziel, den ganzen Körper mit Tumorzellen zu überschwemmen.
Adam Smith für Krebsforscher
"Im Prinzip ist das Ganze die alte Idee von Adam Smith, der zufolge Individuen einfach leichter ans Ziel gelangen, wenn sie zusammenarbeiten", mein Robert Axelrod gegenüber "New Scientist": "Allerdings wurde Kooperation immer als etwas Positives betrachtet, während man Krebs als etwas Schlechtes ansah. Das dürfte der Grund sein, warum noch niemand diese beiden Dinge verbunden hat."

Sollte die Hypothese zutreffen, dann müssten sich solche Schulterschlüsse in Sachen maligner Wucherung auch in Gewebeproben von Tumoren bemerkbar machen, schreiben Axelrod und Kollegen. Denkbar wären etwa Nachweise auf immunchemischer oder genetischer Ebene.

Laura-Jane Armstrong von Cancer Research UK hält die spieltheoretische Erweiterung des konventionellen Krebsmodells jedenfalls für "sehr plausibel". Dieser Ansatz könne etwa erklären, warum Tumore oft ganz unterschiedlich auf Medikamente reagieren und nur selten als Zellkulturen zu züchten sind.

Robert Czepel, science.ORF.at, 30.8.06
->   Spieltheorie - Wikipedia
->   Website von Robert Axelrod
->   New Scientist
 
 
 
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01.01.2010